Schlagwortarchiv für: Reichstag

Eine Soiree bei Bismarck. Holzschnitt nach einer Zeichnung von C. Rechlin Sohn, in: Über Land und Meer. Allgemeine Illustrierte Zeitung Nr. 9, 1874

Verhandlung, Verständigung, Kompromiss – lassen sich diese drei Begriffe heranziehen, um die Regierungspraxis in den Jahren von 1871 bis 1890 zu beschreiben? Reichskanzler Otto von Bismarck bevorzugte zwar zweifellos „eine Monopolisierung der Entscheidungskompetenz in seiner Person“ (Wolfram Pyta). Aber die Autorin und die Autoren des Bandes „Entscheidungskulturen in der Bismarck-Ära“ zeigen auf Basis der soziologischen Entscheidungstheorie, dass der politische Alltag von deutlich mehr Akteuren mitbestimmt wurde. Der Band geht auf eine gleichnamige Tagung zurück, die im September 2022 unter der Leitung der Herausgeber Ulrich Lappenküper und Wolfram Pyta im Historischen Bahnhof Friedrichsruh stattfand.

Weiterlesen

Markierte die Reichsgründung den Anfang vom Ende der Geschichte Preußens? Oder hat Preußen das Deutsche Kaiserreich dominiert? Lennart Bohnenkamp (TU Braunschweig) schlägt mit seiner Forschung einen Mittelweg ein und zeigt an konkreten Beispielen, wie in der „doppelten Hauptstadt“ Berlin zwischen 1867 und 1918 regiert wurde. Als charakteristisch arbeitet er die „verdoppelten politischen Persönlichkeiten“ heraus: Der preußische König war zugleich Deutscher Kaiser, der Ministerpräsident fast ununterbrochen auch Reichskanzler, zahlreiche Parlamentarier saßen im Preußischen Landtag und im Reichstag. Bereits in der Bismarck-Ära klagten Amts- und Mandatsträger zwar über die Doppelbelastung, die Verknüpfung der Entscheidungen auf Reichs- und Landesebene funktionierte aber politisch. Dies sollte sich ändern, nachdem die Ergebnisse der Reichstags- und der Abgeordnetenhauswahlen – bedingt durch die unterschiedlichen Wahlsysteme – immer stärker auseinanderdrifteten. „Der Zwang, mit zwei Parlamenten verschiedener Zusammensetzung und entgegengesetzter Gesinnung zu arbeiten, mußte jede Regierung in lähmende Halbheiten verstricken“, urteilte der damalige Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in der Rückschau.

Der Vortrag fand am 7. Dezember 2023 im Historischen Bahnhof Friedrichsruh statt. Titelbild unter Verwendung einer Fotografie, die Flaneure vor dem Berliner Reichstagsgebäude und der Statue des ersten Reichskanzlers Otto von Bismarck zeigt, um 1900.

„Rudolph Virchow. Nach einer für die Gartenlaube gefertigten Photographie“, in: Die Gartenlaube 1862, Heft 47, Seite 749

Als Pathologe und Anatom, Anthropologe und Prähistoriker war er unter seinen Zeitgenossen eine Ausnahmeerscheinung. Wissenschaftsgeschichtlich gilt der Ruf Rudolf Virchows noch heute als exzellent: Er entdeckte mit Anfang Dreißig die Zelle als kleinste Einheit des Organismus und beriet als führender Hygieniker seiner Zeit deutsche und ausländische Behörden – Cholera und Tuberkulose, ja sogar Lepra gehörten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch zu den wiederholt auftretenden Epidemien in Europa. Zugleich war er bestrebt, seine medizinischen Forschungsergebnisse für die Schaffung einer sozialen Medizin einzusetzen. Virchow stand, etwas zugespitzt, am Anfang unserer heutigen modernen klinischen Forschungs- und Versorgungsmedizin.

Die Persönlichkeit Virchows war zudem von einer weiteren Facette geprägt: Als linksliberaler Politiker stritt er über Jahrzehnte für die parlamentarisch-demokratische Ausgestaltung Deutschlands und rieb sich dabei an seinem Antipoden Bismarck. Diese politische Betätigung soll hier im Mittelpunkt stehen, verbunden mit der dritten Sphäre des Privatmanns, Bürgers und sechsfachen Familienvaters.

Weiterlesen

„Fackelzug zu Ehren des Herzogs Friedrich in Kiel“, 1864.

Als eigenes Bundesland Teil eines geeinten Deutschlands werden – dieser politische Traum einer großen Mehrheit der Schleswig-Holsteiner schien im 19. Jahrhundert in zwei Phasen eine historische Möglichkeit zu sein: während der Revolution von 1848/49 und der sich anschließenden Schleswig-Holsteinischen Erhebung sowie kurz vor und nach dem Deutsch-Dänischen Krieg. Die Realität aber entwickelte sich (zunächst) anders. Die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein wurden zusammen mit dem Herzogtum Lauenburg mit der Übernahme der preußischen Verfassung im Oktober 1867 zur Provinz.

Der wiederholte Versuch, sich politisch zu behaupten, bildet den regionalspezifischen Kern der umfangreichen Analyse, die Tobias Köhler mit seiner Dissertation „Die Berichterstattung der schleswig-holsteinischen Presse anlässlich der Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Abgeordnetenhaus (1867 – 1881)“ vorlegt. Wie im Titel angezeigt, ist die Untersuchung der Wahlberichterstattung eingegrenzt auf die Phase zwischen der Wahl zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes und der Reichstagswahl 1881. Das Ende des Beobachtungszeitraums begründet Köhler mit mehreren Faktoren. Dazu gehören die „konservative Wende“ in der Politik von Reichskanzler Otto von Bismarck sowie die Heirat von Prinz Wilhelm von Preußen, dem späteren Kaiser Wilhelm II., mit Auguste Viktoria, der ältesten Tochter des ein Jahr zuvor verstorbenen Friedrich VIII. zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg – mit dieser Vermählung sei der Verbleib Schleswig-Holsteins bei Preußen in der öffentlichen Wahrnehmung besiegelt worden.

Weiterlesen

Eine Sitzung des Reichstags, Bismarck sitzt links im Bild auf der Regierungsbank. Nach der Natur aufgenommen von H. Lüders, als Schwarz-Weiß-Zeichnung erschienen in: Die Gartenlaube, 1874; der kolorierte Druck ist in der Dauerausstellung „Otto von Bismarck und seine Zeit“ zu sehen.

Emotionen, Zeitmanagement und Wissensvorsprung waren einige der Stichworte, mit denen in der vergangenen Woche auf einer zweitägigen wissenschaftlichen Konferenz in Friedrichsruh Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen von politischen Entscheidungen während der Regierungszeit Otto von Bismarcks untersucht wurden. Veranstaltet wurde die Konferenz unter dem Titel „Entscheidungskulturen der Bismarck-Ära“ von der Otto-von-Bismarck-Stiftung und dem Historischen Institut der Universität Stuttgart unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrich Lappenküper (Friedrichsruh) und Prof. Dr. Wolfram Pyta (Stuttgart).

Weiterlesen

Ludwig Windthorst

Anno 1878 trug sich im Deutschen Reichstag eine skurrile Geschichte zu: Während einer Sitzung erhob sich Reichskanzler Otto von Bismarck von seinem Platz und begann – für alle Abgeordneten gut sichtbar – mit Präsident Max von Forckenbeck ein eifriges Gespräch. Im selben Moment begab sich der Zentrumsabgeordnete Ludwig Windthorst von seiner Bank in die Richtung des Präsidentenstuhls. Aufgrund seiner extremen Kurzsichtigkeit war er offenbar ohne „Ahnung von dem, was sich da oben abspielt“, wie der Bonner Literaturwissenschaftler Berthold Litzmann Jahrzehnte später in seinem Buch über das „alte Deutschland“ zu berichten wusste. „Schon ist er […] bis auf zwei Schritte an die Gruppe herangekommen, als mit einem Male […] Bismarck aus seiner gebeugten Stellung sich aufrichtet […] und aus seinen grossen furchtbaren Augen den harmlosen Wanderer so dräuend mustert, wie etwa eine Riesendogge einen kleinen Pinscher […]. Jener macht dann auch vom Flecke weg kehrt“.

Ist es ein Zufall, dass eine auszugsweise Abschrift von Litzmanns Bericht als eines von nur zwei Schriftstücken über Windthorst den Weg in Bismarcks Nachlass fand? Wohl kaum! Obwohl beide Politiker sich gewiss viel zu sagen oder zu schreiben gehabt hätten, waren sie aufgrund eines tief ins Persönliche hineinreichenden politischen Zerwürfnisses zu einer normalen Kommunikation offenbar nicht fähig. „Mein Leben“, so eröffnete Bismarck einmal einem Mitarbeiter, „erhalten und verschönen zwei Dinge, meine Frau und – Windthorst. Die eine ist für die Liebe da, der andere für den Haß.“

Weiterlesen

Das zeitgenössische Schaubild zeigt Einnahmen, Ausgaben und Leistungen der Sozialversicherungen des Deutschen Reiches in den Jahren von 1885 bis 1909. Zu sehen ist diese Darstellung in der Dauerausstellung „Otto von Bismarck und seine Zeit“ im Historischen Bahnhof Friedrichsruh. (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

Was hat ein häufig als monarchischer Obrigkeitsstaat bezeichnetes politisches System mit Demokratie zu tun? Diese Frage stellt Markus Lang in seiner Einleitung zu einem lesenswerten Sammelband, in dem die Forschungen zum Kaiserreich und zur deutschen Demokratiegeschichte ertragreich miteinander verbunden werden. Die gerade erschienene Aufsatzsammlung ist Ergebnis der Online-Tagung „Einigkeit und Recht – doch Freiheit?“, zu der die Otto-von-Bismarck-Stiftung in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Orte der Demokratiegeschichte, der Forschungsstelle Weimarer Republik der Universität Jena und Weimarer Republik e.V. eingeladen hatte. 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzten im Oktober 2020 diese Möglichkeit, sich mit Blick auf den nahenden 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871 über neue Forschungsansätze und Erkenntnisse auszutauschen.

Die Antworten auf die eingangs gestellte Frage zeichnen ein facettenreiches Bild der Rolle, die das Kaiserreich in der deutschen Demokratiegeschichte spielt. Die Beiträge sind fünf Themenbereichen zugeordnet, die die unterschiedlichen Ebenen von der Kommune bis zur Reichsregierung ebenso in den Blick nehmen wie die verschiedenen Akteure: Verfassung und politisches System; Massendemokratie und Gesellschaft, Parlament und Parteien; Kommunalpolitik und Demokratie; Intellektuelle und religiöse Milieus sowie Erinnerungskultur.

Weiterlesen

Geschrieben von Dr. Ulf Morgenstern am Donnerstag, den 10. November 2016 um 10:35 Uhr

In einer Debatte über das Reichsbranntweinmonopol äußerte sich Otto von Bismarck am 26. März 1886 im Reichstag über das Verhältnis von Wahlen und der „Volksmeinung“:

„Daß die Wahlen nicht das Barometer der Gefühle und Empfindungen des Volkes im Allgemeinen sind, das geht einmal schon aus den arithmetischen Verhältnissen hervor. Die Majorität des Reichstages, wie sie den Regierungen ablehnend und obtruierend augenblicklich gegenübersteht, vertritt doch ihrerseits nur etwas – nicht mal gar viel – mehr als die Hälfte des Reichstages, und der ganze Reichstag vertritt in seiner Gesammtheit doch mit Notwendigkeit nur etwas mehr als die Hälfte des deutschen Volkes.

Also dieses Viertel der öffentlichen Meinung, welches in den Majoritätsabstimmungen zum Ausdruck kommt, ist nicht nothwendig die Volksmeinung.“

Geschrieben von Dr. Ulf Morgenstern am Freitag, den 07. Oktober 2016 um 12:44 Uhr

Unter den präganten Aussagen Bismarcks gibt es solche, die andere Derbheiten und Bonmots noch an Prägnanz überragen. Zu ihnen gehört eine Aussage über das Schicksal des jungen Staates Bulgarien aus dem Jahr 1887. Im Kontext der sogenannten Doppelkrise spielte der Konflikt um die Zukunft Bulgariens für Deutschland eine wichtige Rolle, da er Auswirkungen auf die Beziehungen zu den ganz unterschiedliche Interessen verfolgenden Staaten Russland, Österreich, Großbritannien und Türkei hatte. Von den prekären Beziehungen zu dem durch seinen Minister Boulanger auf Revanche gegen Deutschland sinnenden Frankreich ganz zu schweigen.

Bismarck war, seine eigentlichen Gedanken und Ziele verbergend, rund um den Jahreswechsel 1886/87 im In- und Ausland bemüht, den Eindruck absoluten Desinteresses in der bulgarischen Frage zu erwecken. Kriegslust und Parteilichkeit in dem Zwist um die Regierung des Fürsten Alexanders I. sollten auf keinen Fall mit der Berliner Politik assoziiert werden. Um diese vermeintliche Haltung besonders prägnant zum Ausdruck bringen, wählte Bismarck ein bis heute beliebtes Stilmittel: das des literarischen Zitats.

Ähnlich wie Bundestagspräsident Lammert in seiner Rede am 3. Oktober 2016 in Dresden Schopenhauer zitierte, um dessen Aussage über die Deutschen nicht selbst formulieren zu müssen, griff Bismarck auf den Fundus der geflügelten Worte William Shakespeares zurück, um mit dessen sprachlicher Autorität einen Sachverhalt seiner Gegenwart des Jahers 1887 zu charakterisieren. Wörtlich sagte Bismarck am 11. Januar 1887:

„Als ich diese Declamationen (die Zeitungsausschnitte, in denen zum Kriege gegen Rußland gehetzt wurde) zuerst las – … so fiel mir unwillkürlich die Scene aus ‚Hamlet‘ ein, wo der Schauspieler declamirt und Thränen vergießt über das Schicksal der Hekuba – wirkliche Thränen – und Hamlet sagt – ich weiß nicht, wendet er den ausdruck an, der durch Herrn Virchow das parlamentarische Bürgerrecht gewonnen hat, den Ausdruck von ‚Schuft‘ -: ‚Was bin ich für ein Schuft? oder benutzt er ein anderes Beiwort? – kurz und gut er sagt: ‚Was ist ihm Hekuba?‘ – Das fiel mir damals sofort ein. Was sollen diese Declamationen heißen? Was ist uns Bulgarien? es ist uns vollständig gleichgültig, wer in Bulgarien regiert, und was aus Bulgarien überhaupt wird, – das wiederhole ich hier, ich wiederhole alles, was ich früher mit dem viel mißbrauchten Ausdruck von den Knochen des pommerschen Grenadiers gesagt habe: Die ganze orientalische Frage ist für uns keine Kriegsfrage.“

Ein schwäbischer Bildungsbürger hat sich nun 129 Jahre post festum den Shakespeare-Anleihen des adligen Reichskanzlers  angenommen und auf wundervoll leichtfüßige Art und Weise auch die antiken Grundlagen des Hamlet-Wortes beleuchtet. Nachzulesen hier …

Geschrieben von Dr. Ulf Morgenstern am Donnerstag, den 17. März 2016 um 11:40 Uhr

Im Stadtmuseum Münster erinnert im Moment eine kleine Sonderschau im Foyer an den wichtigsten parlamentarischen Gegner Bismarcks, den Führer der katholischen Zentrumspartei Ludwig Windthorst. Der ehemalige hannoversche Justizminister war auf Reichsebene der Geburtshelfer des heute so selbstverständlichen parlamentarischen Streits. Windthorst sollte nicht nur wegen seines Widerstandes gegen den Bismarckschen Kulturkampf in Erinnerung bleiben, sondern als ein im besten Wortsinn „Vorzeige-Demokrat“, der Sondergesetze auch gegen die Welfen und die Sozialdemokratie ablehnte.