Entscheidungskulturen in der Bismarck-Ära – der Tagungsband

Eine Soiree bei Bismarck. Holzschnitt nach einer Zeichnung von C. Rechlin Sohn, in: Über Land und Meer. Allgemeine Illustrierte Zeitung Nr. 9, 1874

Verhandlung, Verständigung, Kompromiss – lassen sich diese drei Begriffe heranziehen, um die Regierungspraxis in den Jahren von 1871 bis 1890 zu beschreiben? Reichskanzler Otto von Bismarck bevorzugte zwar zweifellos „eine Monopolisierung der Entscheidungskompetenz in seiner Person“ (Wolfram Pyta). Aber die Autorin und die Autoren des Bandes „Entscheidungskulturen in der Bismarck-Ära“ zeigen auf Basis der soziologischen Entscheidungstheorie, dass der politische Alltag von deutlich mehr Akteuren mitbestimmt wurde. Der Band geht auf eine gleichnamige Tagung zurück, die im September 2022 unter der Leitung der Herausgeber Ulrich Lappenküper und Wolfram Pyta im Historischen Bahnhof Friedrichsruh stattfand.

Mit der soziologischen Entscheidungstheorie werden verschiedene Faktoren berücksichtigt, wie der Einleitung zu entnehmen ist. Dazu gehören beispielsweise der Zugang zu Wissen oder die Möglichkeit, zeitliche Abläufe sowie die Art und Weise der Kommunikation zu gestalten. Der Reichskanzler wird von den Herausgebern entsprechend als „ein markantes Entscheidungszentrum“ identifiziert, wobei seine Handlungsmacht immer auch sprachlich erzeugt worden sei.

Fundament dieser Entscheidungsmacht war die verfassungsrechtliche Stellung des Reichskanzlers, der allein dem Kaiser gegenüber verantwortlich war. Bismarck und Wilhelm I. waren, wie die zitierten Quellen zeigen, politisch keineswegs immer einer Meinung, hatten sich aber zu „einem erfolgreichen Entscheidungsduett“ (Jan Markert) zusammengefunden. Während Bismarck in dieser aufgrund äußerst ungleicher Machtbefugnisse asymmetrischen Beziehung der Unterlegene war, nahm er im politischen Aushandlungsprozess gegenüber dem Reichstag die – zunächst – überlegene Position ein. Aus der Perspektive der politikwissenschaftlichen Parlamentarismusforschung lässt sich erkennen, dass Bismarck, der im Gesetzgebungsprozess auf den Reichstag angewiesen war, darüber entscheiden konnte, welche Fraktion sein Verhandlungspartner sein sollte. Diese Asymmetrie musste dann aber jeweils in den Hintergrund treten, um politische Ergebnisse erzielen zu können. Wolfram Pyta zeigt an Beispielen, wie sich in der Bismarck-Ära die im parlamentarischen Alltag wichtige Figur des Fraktionsvorsitzenden herausbildete. Deren jeweilige Verhandlungsposition als Mehrheitsbeschaffer im Gesetzgebungsprozess führte zu einem „Modus verständigungsorientierten Verhandelns“ zwischen Reichstag und Reichsleitung, so ist bei Pyta nachzulesen, der systembedingt auf eine Kompromissfindung ausgerichtet war.

Die Frage, warum dieser eingeschlagene Weg des verständigungsorientierten Verhandelns nicht zur Parlamentarisierung des Kaiserreichs führte, beantwortet Oliver F.R. Haardt in seinem Beitrag über den Bundesrat: Allein die Existenz dieses Verfassungsorgans habe die Entstehung eines parlamentarischen Systems verhindert. Seine eigentlich vorgesehene Rolle als zentrales Organ föderalen Mitentscheidens sei zwar in der Verfassungswirklichkeit zunehmend verblasst, dennoch habe er wie von Kaiser und Kanzler gewollt als „Garant der preußischen Hegemonie“ und „strukturelle Barriere“ gewirkt und damit die Reichsregierung in ihrer vom Reichstag unabhängigen Stellung beschützt.

Nicht nur die zunehmende politische Marginalisierung des Bundesrates belegt, dass sich unterhalb der Verfassungsebene die Entscheidungskulturen weiterentwickelten. Bismarck hatte zunehmend „andere Herrschaftszentren und ‚Kollektivakteure‘“ (Lappenküper) zu berücksichtigen, zu denen auch Akteure der Wirtschaft und die öffentliche Meinung zählten. Cornelius Torp zeigt beispielsweise, wie Wirtschaftsverbände mit ihrer Lobbyarbeit auf Öffentlichkeit, Abgeordnete und Ministerialbürokratie einwirkten, um politische Entscheidungen in ihrem Sinne zu erreichen. Das einzige Politikfeld, in dem Bismarck mit seinem „‚autoritären Führungsstil‘“ aus seiner Sicht ungebetene Einflüsse auf Entscheidungen konstant verhindern konnte, war die Außenpolitik (Beitrag von Friedrich Kießling).

Bismarck begegnete den Herausforderungen des politischen Alltags ungeachtet „fester politischer und weltanschaulicher Überzeugungen“ nicht doktrinär, sondern als „Pragmatiker“ (Lappenküper). Dabei agierte er allerdings keineswegs immer rational, sondern auch „überaus emotional“, wie Birgit Aschmann nachweist. Als besonders extremes Beispiel nennt sie Bismarcks Duell im März 1852 mit Georg von Vincke – er riskierte damit nicht nur seine junge politische Karriere, sondern auch sein privates Glück: Seine Frau Johanna war mit dem dritten Kind schwanger. Aus späteren Jahren sind Bismarcks Gefühlsausbrüche gegenüber Kaiser Wilhelm I. bekannt, die er gezielt zur Durchsetzung eigener Positionen einsetzte. Als weiteren Beleg dafür, dass er mit Gefühlen spielen und so die institutionelle Machthierarchie unterlaufen und Entscheidungsprozesse beeinflussen konnte, benennt Aschmann außerdem ein Ereignis mit weitreichenden Folgen: „Bismarck konnte mit seiner Emser Depesche nur die Emotionen der Öffentlichkeit triggern – ‚springen‘ mussten die Franzosen und der preußische König.“

Abgerundet wird der Band mit einem Beitrag von Peter Altmaier, in dem er den Faden der Entwicklungen im Kaiserreich aufnimmt und mit Blick auf die „Entscheidungskulturen der Gegenwart“ einen Hinweis gibt: „Bis heute wird allerdings nicht von allen verstanden, dass ein demokratischer Grundkonsens um so eher zu erreichen und zu bewahren ist, wenn man auch im Regierungs- und Parlamentsalltag zu wichtigen Fragen eine Konsens- und Kompromisskultur praktiziert.“


Rückblick auf die Tagung: „Entscheidungskulturen der Bismarck-Ära“


Ulrich Lappenküper / Wolfram Pyta (Hrsg.)
Entscheidungskulturen in der Bismarck-Ära
Paderborn 2024 (Wissenschaftliche Reihe, Band 32)

Inhaltsverzeichnis

Ulrich Lappenküper / Wolfram Pyta
Einleitung

Jan Markert
Ein Kaiserreich, kein Bismarckreich. Wilhelm I. in neuer Perspektive

Frank Lorenz Müller
Ewiger Kronprinz und machtloser Herrscher. Kaiser Friedrich III. und der Kompromiss in der konstitutionellen Monarchie

Ulrich Lappenküper
Entscheidungskulturen im politischen Handeln Otto von Bismarcks

Oliver F. R. Haardt
Der Bundesrat als Einrichtung föderalen Mitentscheidens

Wolfram Pyta
Kompromissorientierter Konstitutionalismus. Kooperationsmuster zwischen Reichsleitung und Fraktionenparlament im Bismarckreich 1871-1890

Stefan Gerber
„Eiertanz“? Ludwig Windthorst und die Entscheidungskulturen im Reichstag der Bismarck-Ära

Holger Afflerbach
Entscheidungskulturen im Heerwesen

Friedrich Kieẞling
Diplomaten als Entscheidungsträger? Außenpolitische Entscheidungskulturen in der Ära Bismarck

Cornelius Torp
„Wir müssen schreien, daß es das ganze Land hört“. Zur Rolle von Wirtschaftsverbänden in politischen Entscheidungsprozessen des Deutschen Kaiserreichs

Birgit Aschmann
Emotionen als gamechanger in den Kulturen des Entscheidens der Bismarckzeit

Peter Altmaier
Entscheidungskulturen der Gegenwart