Ein Platz in der Demokratiegeschichte

Das zeitgenössische Schaubild zeigt Einnahmen, Ausgaben und Leistungen der Sozialversicherungen des Deutschen Reiches in den Jahren von 1885 bis 1909. Zu sehen ist diese Darstellung in der Dauerausstellung „Otto von Bismarck und seine Zeit“ im Historischen Bahnhof Friedrichsruh. (© Otto-von-Bismarck-Stiftung)

Was hat ein häufig als monarchischer Obrigkeitsstaat bezeichnetes politisches System mit Demokratie zu tun? Diese Frage stellt Markus Lang in seiner Einleitung zu einem lesenswerten Sammelband, in dem die Forschungen zum Kaiserreich und zur deutschen Demokratiegeschichte ertragreich miteinander verbunden werden. Die gerade erschienene Aufsatzsammlung ist Ergebnis der Online-Tagung „Einigkeit und Recht – doch Freiheit?“, zu der die Otto-von-Bismarck-Stiftung in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Orte der Demokratiegeschichte, der Forschungsstelle Weimarer Republik der Universität Jena und Weimarer Republik e.V. eingeladen hatte. 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzten im Oktober 2020 diese Möglichkeit, sich mit Blick auf den nahenden 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871 über neue Forschungsansätze und Erkenntnisse auszutauschen.

Die Antworten auf die eingangs gestellte Frage zeichnen ein facettenreiches Bild der Rolle, die das Kaiserreich in der deutschen Demokratiegeschichte spielt. Die Beiträge sind fünf Themenbereichen zugeordnet, die die unterschiedlichen Ebenen von der Kommune bis zur Reichsregierung ebenso in den Blick nehmen wie die verschiedenen Akteure: Verfassung und politisches System; Massendemokratie und Gesellschaft, Parlament und Parteien; Kommunalpolitik und Demokratie; Intellektuelle und religiöse Milieus sowie Erinnerungskultur.

Insgesamt entsteht ein lebendiger Eindruck davon, wie sich das politische Geschehen im Kaiserreich im Laufe der Jahrzehnte von den Vorgaben der Reichsverfassung wegentwickelte. In Politik und Gesellschaft prägten sich Verfahrensweisen aus, mit denen die politische Partizipation ausgeweitet und vertieft werden konnte. Die Analysen übersehen dabei nicht, dass „Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Militarismus [und] Misogynie“ (Hedwig Richter) den vielfältigen Emanzipationsbestrebungen entgegenstanden. Herauszulesen sind außerdem spannende Differenzen in der Interpretation: Wolfram Pyta beschreibt das Kaiserreich „als System kompromisshafter Entscheidungen“. Den Reichstagsparteien sei es nur durch Kompromisse möglich gewesen, an Einfluss zu gewinnen. Auf diese Weise hätten sie stetig politisch dazugelernt. Christoph Nonn konstatiert dagegen eine Kultur der politischen Verantwortungslosigkeit. Zwar habe das Kaiserreich über ein für die damalige Zeit äußerst modernes Männerwahlrecht verfügt. Die Regierung sei aber nur dem Kaiser, nicht dem Reichstag gegenüber verantwortlich gewesen. Damit habe für die Parteien niemals die Notwendigkeit bestanden, den Wählern eine unliebsame Entscheidung vermitteln zu müssen. In der Konsequenz sei diesen letztlich nie zugemutet worden, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen.

Ludwig Knaus, „Der Unzufriedene“ (1877). Der ursprüngliche Titel des Gemäldes lautete „Der Sozialdemokrat“, eine Reproduktion ist in der Dauerausstellung „Otto von Bismarck und seine Zeit“ zu sehen. (© Deutsches Historisches Museum / DGDB)

Die Aufsatzsammlung, die auch in gedruckter Form erscheinen wird, leistet neben der Verknüpfung von Kaiserreich und Demokratie auch einen Beitrag zur Einordnung der deutschen Geschichte in ihren europäischen Kontext. Der Blick auf die Entwicklungen in Russland, Frankreich und England lässt den historischen Bezugsrahmen damaliger Entscheidungen sichtbar werden. Deutlich wird, dass Deutschland mit seiner Konstituierung als Kaiserreich und Bundesstaat zwar einen eigenen verfassungsrechtlichen Weg beschritt, in seiner Innen- wie Außenpolitik in vielem aber nicht von den Pfaden abwich, die auch anderenorts gewählt wurden. Im Falle der Kolonialpolitik verhielt sich das Kaiserreich sogar zunächst vergleichsweise zögerlich, wie Ulf Morgenstern in seinem Beitrag zeigt. Er plädiert angesichts der aktuellen Debatte über die deutsche Kolonialpolitik dafür, diese als Teil der Geschichte der Globalisierung historisch einzuordnen.

Im abschließenden Beitrag zeichnet Ulrich Lappenküper die widersprüchliche Wahrnehmung der Reichsgründung bis in die Gegenwart nach und betont, dass wir uns noch immer „in vielfältiger Weise in jenem politischen Raum [bewegen], der 1871 geschaffen worden ist: Man denke an die staatlichen Institutionen, das (1918 um das Frauenwahlrecht erweiterte) allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht, den Föderalismus, den Rechts- und den Sozialstaat oder den Aufstieg der bürgerlichen Kultur.“ Daher sollte das 150. Jubiläum genutzt werden, um diese Epoche mit ihren Licht- und Schattenseiten in das Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik einzurücken.