Bismarck und die Monroe-Doktrin von 1823

Washington überquert den Delaware (Washington Crossing the Delaware), Gemälde von Emanuel Leutze, 1851 (The Metropolitan Museum of Art, New York). Hinter George Washington stehen James Monroe und Nathanael Greene.

In engster Absprache mit Frankreich bereitete Reichskanzler Otto von Bismarck im Frühjahr 1884 eine internationale Konferenz zur Regelung akuter Konflikte in Zentralafrika vor. Angestoßen worden war seine Initiative zur „Westafrika-Konferenz“ durch einen Vertrag, den Portugal und Großbritannien Ende Februar über die Besitzverhältnisse an der Kongo-Mündung geschlossen hatten. Denn damit drohte die Errichtung eines Sperrriegels zum Inneren des Kontinents mit höchst nachteiligen Folgen für den internationalen Handel, die weder das Deutsche Reich noch die Dritte Republik hinnehmen mochten.

Während der Vorbereitung der Konferenz regte Frankreich die Teilnahme der Vereinigten Staaten von Amerika an. Bismarck stimmte sofort zu, hielt eine Zusage aber „im Hinblick auf die Monroe-Doktrin [für] zweifelhaft“.1 Unter Hinweis auf diese Doktrin riet die portugiesische Regierung hingegen, man möge Zurückhaltung gegenüber einer Mitwirkung der Amerikaner üben. Diesen Rat stufte Bismarck als rein „akademisch“ ein, denn Europa erkenne die Doktrin nicht an.2 Kurz darauf musste der Reichskanzler zur Kenntnis nehmen, dass die rein „akademische“ Debatte hochpolitische Bedeutung bekam, allerdings nicht durch die USA, sondern durch Großbritannien: Premierminister William Gladstone sprach dem Deutschen Reich im Frühsommer 1884 das Recht auf Kolonialerwerbungen in Südwestafrika ab und vermittelte damit den Anschein, als ob die Briten die „völkerrechtliche Abnormität der amerikanischen Monroe-Doktrin“ auf die afrikanische Küste übertrugen.3 Wenige Monate später gewann Bismarck den Eindruck, dass England die Doktrin nicht nur „gegen die Nachbarschaft anderer Nationen […] in Afrika geltend“ mache4, sondern „auf die ganze Welt“ anzuwenden beabsichtige.5

Noch zehn Jahre später und mittlerweile im Ruhestand sollte sich Bismarck über die Monroe-Doktrin heftig ereifern, wobei seine Kritik sich nun allein gegen die US-Amerikaner richtete. Aufmerksam hatte er verfolgt, wie US-Außenminister Richard Olney der britischen Regierung unter Lord Salisbury Mitte 1895 ein Memorandum präsentierte, das der Monroe-Doktrin neue Virulenz gab: Olney bezeichnete die USA als praktisch souverän auf dem Doppelkontinent und leitete daraus das Recht ab, im Streit zwischen Großbritannien und Venezuela über den Grenzverlauf der britischen Kolonie Guyana intervenieren zu dürfen. Bismarck war ganz anderer Meinung und hielt damit auch nicht hinter dem Berg. In einem von ihm angeregten Artikel attackierte sein publizistisches ‚Hausorgan‘, die „Hamburger Nachrichten“, die Monroe-Doktrin Anfang 1896 als „eine unglaubliche Unverschämtheit der übrigen Welt gegenüber […] und eine lediglich auf große Macht begründete Gewalttat allen amerikanischen und denjenigen europäischen Staaten gegenüber, die Interessen in Amerika haben“.6

Die Unterzeichnung des Vertrags von Gent, Heiligabend (The Signing of the Treaty of Ghent, Christmas Eve, 1814), Gemälde von Sir Amédée Forestier, 1914 (Smithsonian American Art Museum)

Um zu verstehen, wieso sich der Alt-Reichskanzler über diese Doktrin so aufregte, bedarf es eines Rückblicks auf die Jahre 1814/1815. Für die europäische Geschichte der Neuzeit ist das Jahr 1815 mit dem Wiener Kongress und der Beendigung der Napoleonischen Kriege von großer Bedeutung. Globalgeschichtlich mindestens ebenso wichtig ist der Friede von Gent vom Dezember 1814, durch den für die Vereinigten Staaten von Amerika ebenfalls eine Epoche voller Kriege und revolutionärer Kämpfe zu Ende ging. Als der Republikaner James Monroe zwei Jahre später zum fünften Präsidenten der USA ernannt wurde, verband mancher Landsmann damit die Hoffnung, dass dem Frieden gesellschaftliche Harmonie und wirtschaftlicher Fortschritt folgen möge.

Monroe wurde am 28. April 1758 als Sohn eines Plantagenbesitzers in Virginia geboren. Nach dem Ausbruch des Revolutionskriegs von 1775 trat er in die Kontinentalarmee, die unter dem Oberbefehl von George Washington stand, ein und diente mehrere Jahre als Offizier. Anschließend studierte er Rechtswissenschaft und begann 1782 eine politische Karriere, die ihn zunächst in das Abgeordnetenhaus von Virginia, dann in den Konföderationskongress und schließlich in den Senat nach Washington führte. 1794 entsandte ihn die Regierung George Washingtons als diplomatischen Vertreter nach Frankreich. 1799 stieg Monroe zum Gouverneur von Virginia auf, zog 1801 nach der Wahl seines Freundes Thomas Jefferson zum Präsidenten wieder nach Washington und übernahm in den nächsten Jahren diverse politische Missionen. 1811 wurde Monroe Außenminister, während des Krieges gegen Großbritannien 1814 außerdem Kriegsminister. Mit der Ernennung zum Präsidenten im Dezember 1816 erreichte seine Laufbahn ihren Höhepunkt.

James Monroe (1758 – 1831), fünfter Präsident der USA, Lithografie der D.W. Kellogg & Company zwischen 1830 und 1842 (Library of Congress, LC-DIG-pga-11239)

Während der doppelten Amtszeit Monroes nabelten sich die USA materiell wie geistig von Europa ab. Es setzte sich ein ökonomischer Nationalismus durch, zugleich wurde die territoriale Expansion nach Westen vorangetrieben. Nachdem innerhalb von drei Jahren mit Indiana, Mississippi, Illinois und Alabama vier neue Staaten in die Union aufgenommen worden waren, gelang den USA 1819 der Erwerb Floridas von Spanien. US-Außenminister John Quincy Adams und der spanische Gesandte Luis de Onís unterzeichneten das „Transcontinental Treaty“, in dem sich beide Staaten auf den Verlauf der spanisch-amerikanischen Grenze vom Golf von Mexiko bis zum Pazifik sowie auf die Abgrenzung von Interessensphären im Westen und Südwesten des nordamerikanischen Kontinents einigten. Ohne es zu wissen, legten Adams und Onís in gewisser Weise den Grundstein für die Monroe-Doktrin.

Neben der territorialen Ausdehnung nach Westen fühlten sich die USA außenpolitisch seit George Washingtons Abschiedsansprache von 1796 und Thomas Jeffersons Inaugurationsrede von 1801 dem Motto verpflichtet, keine dauerhaften Bündnisse mit ausländischen Staaten abzuschließen. Sie setzten auf Neutralität und verlangten dafür von den europäischen Großmächten, nicht in deren Händel hineingezogen zu werden.

Dieser Grundsatz geriet ins Wanken, als die seit 1819 von Spanien abgefallenen Kolonien in Lateinamerika die USA um diplomatische Anerkennung baten. Während namhafte US-amerikanische Politiker die Regierung zu einer Unterstützung der jungen Staaten aufforderten, hielt Außenminister Adams einen solchen Schritt aus Rücksicht auf die Mächte der Heiligen Allianz – Russland, Österreich und Preußen – für nicht angebracht. Gerade zu Russland standen die Beziehungen nicht zum Besten, da Zar Alexander I. 1821 in einem Erlass die Ausweitung von Russisch-Amerika, d.h. Alaska, nach Süden ankündigte. Doch auch zu den übrigen beiden Mächten bahnte sich ein Konflikt an, weil die USA die lateinamerikanischen Republiken 1822 doch anerkannten, wohingegen die Heilige Allianz Spanien im selben Jahr eine Vermittlung mit den abtrünnigen Kolonien mit dem Ziel der Restauration des alten Zustandes zusagte.

Um die Einmischung der drei konservativen Großmächte in die Angelegenheiten Lateinamerikas abzuwehren, schlug Großbritannien den USA im August 1823 eine gemeinsame Erklärung vor. Bei Präsident Monroe fanden die Briten offene Ohren, dies umso mehr, als die Heilige Allianz Frankreich mittlerweile damit beauftragt hatte, die 1820 auf revolutionärem Wege beseitigte absolutistische Ordnung in Spanien wiederherzustellen. Außenminister Adams hingegen wollte von einer britisch-amerikanischen Gemeinschaftsaktion nichts wissen und riet Monroe stattdessen, auf anderem Wege Flagge zu zeigen – in der Jahresbotschaft an den Kongress. Monroe stimmte dem zu und verkündete wenige Wochen nach der Wiederherstellung der absolutistischen Monarchie in Spanien in einer weitgehend von Adams formulierten Ansprache am 2. Dezember 1823 zwei außenpolitische Kernsätze: 1) Die USA werden sich nicht in europäische Kriege einmischen und ihre außenpolitischen Interessen auf die westliche Hemisphäre beschränken. 2) Sie bewerten jeden Versuch europäischer Mächte zur Rückeroberung ehemaliger Kolonien in Amerika als Gefährdung ihrer nationalen Sicherheit. Bestehenden Kolonialbesitz klammerte der Präsident ausdrücklich aus.

Monroes Botschaft verursachte in Europa einen Aufschrei der Entrüstung. Konservative Politiker wie der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich empfanden die Jahrzehnte später so genannte Monroe-Doktrin als eine Zumutung. Selbst das liberale England registrierte sie mit Verbitterung, weil die Hoffnung auf einen Schulterschluss zerstoben war. Beruhigend wirkte auf die beunruhigten europäischen Geister allenfalls, dass die Monroe-Doktrin als bloße Proklamation von Grundsätzen weder innerstaatliche Gesetzeskraft noch völkerrechtlichen Charakter besaß und vorläufig toter Buchstabe blieb, da den USA das politisch-militärische Potential fehlte, den rhetorischen Anspruch durchzusetzen. Erst Ende des Jahrhunderts gingen die USA unter den Präsidenten Grover Cleveland und Theodore Roosevelt dazu über, ihre Machtinteressen offensiver durchzusetzen. Auch wenn einzelne Präsidenten seither mitunter eine Abkehr von der Doktrin verkündeten, blieb Monroes Diktum bis heute ein Instrument unilateraler Hegemonialpolitik. Donald Trump stellte sich 2018 ausdrücklich in diese Tradition, was in Europa als doppelte Gefahr wahrgenommen wurde. Nicht nur Trumps „America first“-Attitüde, sondern auch der Bezug auf Monroes zweite Maxime, die Nichteinmischung in europäische Angelegenheiten, musste als Abkehr von der US-amerikanischen Beistandsgarantie für die europäische Sicherheit gedeutet werden. Angesichts des drohenden Neo-Isolationismus der USA wird die Europäische Union gut beraten sein, jene Grundsätze walten zu lassen, die Dominik Haffer jüngst für das Europaverständnis Otto von Bismarcks festgestellt hat: „Solidarität, Zurückhaltung, Vertragstreue und Kooperation“.7


1. Paul von Hatzfeldt an Bernhard von Bülow, 5.6.1884, in: Otto von Bismarck, Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe, Abt.III: Schriften Bd. 6 1884-1885. Bearb. von Ulrich Lappenküper, Paderborn u. a. 2011, S. 207

2. Bismarck an Bernhard von Bülow, 24.5.1884, in: Bismarck, NFA, Abt. III, Bd. 6, S. 184f., S. 185

3. Weisung Herbert von Bismarcks, 29.5.1884, in: Bismarck, NFA, Bd. 6, S. 197-199, S. 199; s.a. Bismarck an Münster, 1.6.1884, in: ebd., S. 202-205, S. 203

4. Bismarck an Georg zu Münster, 10.6.1884, in: Bismarck, NFA, Bd. 6, S. 212-214, S. 213

5. Bismarck an Münster, 17.2.1885, in: Bismarck, NFA, Bd. 6, S. 496-500, S. 499

6. „Hamburger Nachrichten“, 9.2.1896, in: Hermann Hofmann, Fürst Bismarck 1890-1898. Nach persönlichen Mitteilungen des Fürsten und eigenen Aufzeichnungen des Verfassers, nebst einer authentischen Ausgabe aller vom Fürsten Bismarck herrührenden Artikel in den Hamburger Nachrichten, Bd. 2, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1913, S. 357

7. Dominik Haffer, Europa in den Augen Bismarcks. Bismarcks Vorstellungen von der Politik der europäischen Mächte und vom europäischen Staatensystem. Paderborn u.a. 2010, S. 131


Literatur:

Otto von Bismarck, Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe, Abt.III: Schriften Bd. 6 1884-1885. Bearb. von Ulrich Lappenküper, Paderborn u. a. 2011

David Dent, The Legacy of the Monroe Doctrine. A Reference Guide to U.S. Involvement in Latin America and the Caribbean, Westport/London 1999

Dominik Haffer, Europa in den Augen Bismarcks. Bismarcks Vorstellungen von der Politik der europäischen Mächte und vom europäischen Staatensystem, Paderborn u.a. 2010

Hermann Hofmann, Fürst Bismarck 1890-1898. Nach persönlichen Mitteilungen des Fürsten und eigenen Aufzeichnungen des Verfassers, nebst einer authentischen Ausgabe aller vom Fürsten Bismarck herrührenden Artikel in den „Hamburger Nachrichten“, Bd. 2, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1913

Dexter Perkins, A History of the Monroe Doctrine, London 1960

Ernest R. May, The Making of the Monroe Doctrine, Cambridge 1975