Bismarcks Gefühlspolitik

„Kanzlerliebe: Einer nach dem Anderen! Von den artigen Kindern kommt Jedes an die Reihe“ (1882) und „Krieg und Frieden“ (1879), in: Bismarck-Album des Kladderadatsch 1849 – 1898, Berlin 1910 (29. Auflage)

„Gefühle sind nicht erst heute der Treibstoff, um politische Interessen zu befördern und Massen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Die wahre Staatskunst besteht indes darin, gefühlspolitische Botschaften zum Mittel vernunftgeleiteter Politik zu machen. Auch in dieser Hinsicht könnte Wladimir Putin einiges von Otto von Bismarck lernen.“ So beginnt die Historikerin und Direktorin des Forschungsbereiches „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, Ute Frevert, einen jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Artikel. Wie stichhaltig sind diese Betrachtungen über Bismarcks Gefühlspolitik?

Kein Zweifel: Seit den 1850er-Jahren war Bismarck ein „Realpolitiker“ par excellence. Mit dem Kaiser der Franzosen Napoleon III., Großbritanniens Premierminister Viscount Palmerston und Russlands Außenminister Alexander Gortschakow gehörte der preußische Parlamentarier, Diplomat, Ministerpräsident und deutsche Reichskanzler zu einer Riege europäischer Staatsmänner, die in den internationalen Beziehungen das Tor zu einer neuen, von „Machtbesessenheit und Machanbetung“ (Winfried Baumgart) geprägten Epoche aufstießen. „Wir müssen mit den Realitäten wirthschaften und nicht mit Fictionen“, lautete Bismarcks Credo. Als Kern seiner realpolitischen Überzeugungen darf wohl die Auffassung gelten, dass es in der Politik nicht um „Sympathien“, sondern um „Interessen“ gehe. „Die einzig gesunde Grundlage eines großen Staates […] ist der staatliche Egoismus […], und es ist eines großen Staates nicht würdig, für eine Sache zu streiten, die nicht seinem eigenen Interesse angehört“, heißt es in seiner berühmten Olmütz-Rede vom 3. Dezember 1850. Geradezu verächtlich mokierte sich der Gesandte beim Deutschen Bund 1857 darüber, dass König Friedrich Wilhelm IV. die preußischen Interessen „dem eigenen Gefühl von Liebe oder Haß“ unterordne. Und als Kaiser Wilhelm I. Zar Alexander II. 1871 für die russische Neutralität im Krieg gegen Frankreich dankte, stempelte der Reichskanzler das Lob zum Ausdruck einer Gefühlspolitik, in der „die Russenfreundlichkeit stärker ist als das eigne Landesinteresse“.

Doch sollten uns derartige Aussagen nicht zu vorschnellen Schlüssen verleiten, Vorsicht ist geboten. Bismarck lehnte die „Gefühlspolitik“ nicht per se ab, sondern im Grunde nur dann, wenn sie seinen politischen Kalkulationen zuwiderlief. Im Prinzip war der Mann aus der Altmark ein sehr emotionaler Mensch. „Haß ist aber ein ebenso großer Sporn zum Leben, wie Liebe“, gab er einmal im Gespräch mit dem Landrat Christoph Tiedemann unumwunden zu. „Ich bin ganz Nerven“, gestand er dem englischen Maler William Richmond, „und zwar derartig, daß Selbstbeherrschung die einzige Aufgabe meines Lebens gewesen ist, und noch ist. […] Ich bin sehr heißblütig und habe immer dagegen zu kämpfen, daß mich mein Temperament im Hause fortreißt.“

Ute Frevert geht unter Hinweis auf seine posthum veröffentlichten „Gedanken und Erinnerungen“ davon aus, dass Bismarck außenpolitisch Rücksicht auf die „Stimmung“ und das „Selbstgefühl“ anderer Mächte genommen und eine rein vernunftgeleitete Politik betrieben habe, die „immer auch die Gefühle der Gegenseite einbezieht und alles unterlässt, was diese als demütigend und kränkend empfinden“. Nicht nur die Kaiserproklamation in Versailles 1871, auch Bismarcks ‚Privatkrieg‘ gegen Russlands Reichskanzler Gortschakow nach dem Berliner Kongress von 1878 und seine Tiraden gegen den britischen Premierminister William Ewart Gladstone 1884 lassen sich mit dieser These kaum in Einklang bringen: Seine Attacken gegen seinen russischen Widersacher gingen bekanntlich so weit, dass Alexander II. im berühmten „Ohrfeigenbrief“ vom 15. August 1879 Wilhelm I. ermahnte, seinen Reichskanzler zur Räson zu rufen. Und dass Bismarck Gladstone in einem Erlass an Botschafter Hans-Lothar von Schweinitz vom 26. Februar 1884 jegliche Fähigkeit zum Staatsmann absprach, ihn gar für „geisteskrank“ erklärte, führte noch Jahrzehnte später dazu, dass das Dokument bei der Veröffentlichung seiner „Gesammelten Werke“ nicht abgedruckt werden durfte.

Nicht nur auf dem internationalen Parkett, auch in den innerdeutschen Angelegenheiten betrieb Bismarck seine Gefühlspolitik keineswegs völlig souverän. Während er die Gefühle der deutschen Nationalbewegung vor und im Krieg gegen Dänemark 1864 weitgehend ignorierte, sollte er sie 1867 im Zuge der Luxemburgkrise wie auch 1870 in der Julikrise politisch instrumentalisieren. „Herr des gefühlspolitischen Verfahrens“ (Ute Frevert) blieb er dabei aber nur sehr bedingt, denn die Zeit der „Kabinettspolitik“ war vorbei. Sehr genau spürte Bismarck die Notwendigkeit, die veröffentlichte Meinung in seine Kalküle einzubeziehen, die „Mache [sic!] der Presse“ – wie er das formulierte – zu bekämpfen, ihre Macht aber für seine politischen Aktivitäten nutzbar zu machen. Nicht selten wirkte er dabei als Treibender, bisweilen aber auch als Getriebener; denn spätestens seit dem Inkrafttreten des Reichspressegesetzes von 1874 konnte er die Presse nicht nach Belieben kontrollieren.

Ein ums andere Mal ließ Bismarck die ihm von Ute Frevert testierte Fähigkeit, die „Gefühle und Empfindlichkeiten anderer wahrzunehmen und in das eigene Handlungskalkül einzubeziehen“, vermissen. Oder kann man es tatsächlich noch unter dem von ihr formulierten Rubrum der „emotionalen Intelligenz“ subsumieren, dass Bismarck innenpolitische Gegner wie Ludwig Windthorst und Eduard Lasker als „Reblaus“ oder „Staatskrankheit“ verunglimpfte? Nicht zu Unrecht hat Lothar Gall dem Objekt seiner großen Bismarck-Biografie ein „pathologisches Rachebedürfnis“ zugeschrieben, also einen Mangel an Affektkontrolle, der in bestimmten Situationen eine gezielte Strategie sein konnte, in anderen Konstellationen aber nur Ausdruck von Unbeherrschtheit war. Die Realitäten der Bismarck’schen Gefühlspolitik waren ambivalenter als der Artikel von Ute Frevert vorgibt. In welchem Maße ein solcher Befund nun Auswirkungen auf ihre Erhebung Bismarcks zum Lehrmeister Putins hat, wäre zu diskutieren.


Ute Frevert, Gefühlspolitik à la mode, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juli 2023, S. 6.

Allgemeine Literatur: Ulrich Lappenküper und Ulf Morgenstern (Hrsg.), Überzeugungen, Wandlungen und Zuschreibungen. Das Staatsverständnis von Otto von Bismarck, Baden-Baden 2019.