Schwierige Erbschaften. Der Gedenkstein für Otto von Bismarck und das Grab Georg von Schönerers in der Sachsenwald-Gemeinde Aumühle

Das Bismarck-Denkmal in Aumühle (Ausschnitt), © Otto-von-Bismarck-Stiftung

Seitdem der Bundestag und die Hamburgische Bürgerschaft 2014 beschlossen haben, das Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark zu sanieren, wird in Hamburg intensiv über einen zeitgemäßen Umgang mit dieser Rolandsfigur diskutiert. Weniger öffentlichkeitswirksam, aber nicht minder kontrovers hatte bereits Jahrzehnte zuvor in Aumühle eine ähnliche Diskussion über gleich zwei ‚Steine des Anstoßes‘ eingesetzt, die mit dem Namen des ersten Reichskanzlers verbunden sind: ein Bismarck-Denkmal, das sein österreichischer Verehrer Georg von Schönerer 1921 gestiftet hatte, sowie dessen Grabstätte, die ein Jahr später auf dem Aumühler Friedhof eingerichtet worden war.

Auf der Basis der sehr überschaubaren Literatur, bisher nicht veröffentlichter Archivquellen und zweier Presseausschnittsammlungen sollen im Folgenden die Biografie Schönerers, dessen Verhältnis zu Otto von Bismarck und Bedeutung für Adolf Hitler, die Hintergründe der Aufstellung des Denkmals und der Grablegung sowie der Umgang der Gemeinde Aumühle mit dem schwierigen Erbe geschildert werden.

Mit seinem alldeutschen Fantasien und seiner Bismarck-Verehrung war Georg von Schönerer außerhalb seiner Anhängerschaft in Österreich zum Gespött geworden, wie diese Karikatur zeigt. Schönerer begeht hier den Geburtstag Bismarcks mit Tabak und reichlich Bier; aus: Der Floh, 19. April 1896

Wer war Georg von Schönerer?

Georg von Schönerer wurde am 17. Juli 1842 in Wien als Sohn eines Eisenbahningenieurs geboren. Nach der Erhebung des Vaters in den Adelsstand 1860 zog die Familie auf Gut Rosenau in Niederösterreich. Sein Sohn absolvierte eine landwirtschaftliche Ausbildung, wandte sich dann aber der Politik zu.1873 gewann Schönerer einen Sitz im Reichsrat, dem Parlament Österreichs. Er schloss sich dem demokratischen Flügel der liberalen Verfassungspartei an und erregte durch seinen antihabsburgisch und antikirchlich ausgerichteten radikalen Deutschnationalismus rasch Aufsehen. Obwohl er mit der Urenkelin eines getauften Juden verheiratet war, trat er außerdem immer unverhüllter für einen „biologisch begründeten Antisemitismus“ (Joachim Fest) ein.

1888 ereilte Schönerer ein jäher politischer Absturz. Nachdem er aus Verärgerung über eine verfrühte Todesmeldung Kaiser Wilhelms I. im betrunkenen Zustand die Redaktion einer Wiener Zeitung überfallen hatte, wurde er zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und verlor seinen Adelstitel sowie vorübergehend das passive Wahlrecht. Nach seiner Haft radikalisierte er sich in seinen deutschlandpolitischen wie judenfeindlichen Forderungen, gründete 1891 die deutschnationale Alldeutsche Vereinigung und schwang sich zum Hauptvertreter des österreichischen Rassenantisemitismus auf.

1897 gelang Schönerer ein erstaunlicher politischer Wiederaufstieg. Mit seiner Rückkehr in den Reichsrat und der Bildung einer fünf Sitze umfassenden Schönerer-Gruppe gewann er politisches Gewicht. 1901 katapultierte ihn der Einzug von 21 Alldeutschen in den Reichsrat auf den Höhepunkt seines Ansehens. Doch schon ein Jahr später zerbrach seine Gruppe, weil immer weniger Parteifreunde seine autokratische Führung, sein elitäres Politikverständnis wie auch seinen antikatholischen Kampf noch hinnehmen wollten. 1907 verlor er sein Mandat und zog sich auf sein Schloss zurück. Ungeachtet seiner entschiedenen Feindschaft zum Hause Habsburg wurde er 1917 erneut nobilitiert. Nach seinem Tod 1921 wurde er in deutschnationalen und nationalsozialistischen Kreisen zur Legende.

Schönerer und Bismarck

Als Reichsratsabgeordneter hatte sich Schönerer wiederholt explizit auf Bismarck berufen, sei es in Bezug auf die Sozialgesetzgebung, die Verstaatlichung von Eisenbahnen oder den Kampf gegen den Katholizismus. Wie ehrerbietig er dem deutschen Reichskanzler verbunden war, zeigte er erstmals 1885, als er zu dessen 70. Geburtstag in Wien eine Bismarck-Feier für 3.000 Gleichgesinnte veranstaltete und dem Jubilar postalisch im Namen der versammelten Festgemeinde gratulierte. 1888 initiierte Schönerer unter den österreichischen Deutschnationalen eine Kampagne zur Absendung von Huldigungsschreiben, die Bismarck als den „nationalsten und grössten deutschen Staats- und Volksmann“ rühmten.

Nach dem Sturz des Reichskanzlers 1890 versuchte Schönerer, seine Kontakte nach Friedrichsruh zu intensivieren. Doch sein ungestümer Deutschnationalismus, der Antikatholizismus oder der Rassenantisemitismus veranlassten Bismarck, Distanz zu halten. Schönerer ließ sich durch diese Reserviertheit nicht entmutigen und brachte sich beim Reichskanzler a.D. insbesondere durch vorformulierte Geburtstagsgrüße der österreichischen Deutschnationalen in Erinnerung, die zu Hunderten in den Sachsenwald geschickt wurden. 1896 begab sich eine Gruppe von Schönerianern nach Friedrichsruh, um Bismarck einen aus Eichenholz und Eisen hergestellten Schild zu überreichen.

Schönerer und die Nachkommen Bismarcks

Kurz nach dem Ableben des Alt-Reichskanzlers rief Schönerer seine Anhänger zu einer alljährlichen Fahrt nach Friedrichsruh auf. Noch ehe Bismarck seine letzte Ruhestätte im Mausoleum gefunden hatte, reiste er im November 1898 an und durfte mit Erlaubnis Herbert von Bismarcks zu dem im Schloss aufgebahrten Sarg. Seit der Umbettung Otto von Bismarcks im Frühjahr 1899 fuhren die Schönerianer mit ihrem politischen Kopf jahrelang regelmäßig jeweils am Tag vor dem Totensonntag zur Gruftkapelle.

Bismarcks Familie war der Kult um ihren großen Ahnen offenbar nicht unlieb. Die von ihm einst gewahrte Distanz zum Anführer der österreichischen Alldeutschen und Antisemiten ließ jedenfalls deutlich nach. 1903 beehrte Herbert von Bismarck die Schönerianern mit einer kurzen Ansprache vor dem Mausoleum. Nach seinem frühen Tod 1904 gestattete seine Witwe Marguerite von Bismarck Schönerer die Fortsetzung der Besuche ohne Zögern. 1905 sandte ihr Sekretär Schönerer sogar Weihnachtsgrüße und legte zur Erinnerung an dessen letzte Friedrichsruh-Visite ein Foto der Fürstin „mit den 3 Stammhaltern der Familie“ bei.

Seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sah Schönerer von Wallfahrten in den Sachsenwald ab, vielleicht auch deshalb, weil seine Frau Philippine im November 1913 auf dem Rückweg von Friedrichsruh verstorben war. Nach dem Ende des Krieges nahmen seine Anhänger die Tradition zwar 1920 wieder auf, allerdings ohne ihren Chef, der sich dazu körperlich nicht mehr imstande fühlte.

Der Bismarck-Gedenkstein in Aumühle wurde am 1. April 1921 enthüllt (Foto: Gemeindearchiv Aumühle)

Der Bismarck-Gedenkstein und das Schönerer-Grab in Aumühle

Einen bizarren Höhepunkt von Schönerers ganz eigenem Bismarck-Kult markierten die Enthüllung des von ihm gestifteten Gedenksteins in Aumühle und seine Grablegung auf dem dortigen Friedhof. Schon 1899 hatte Schönerer unter den sog. Ostmärkern, d.h. den Bewohnern des Gebiets der mittelalterlichen Markgrafschaft Österreich, eine Spendensammlung zur Errichtung eines Bismarckdenkmals gestartet. Ursprünglich dachte er an eine Büste in Krems, dann an einen Turm in Graz. Nachdem sich beide Projekte zerschlagen hatten, unternahm Schönerer 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, einen neuen Anlauf. Mit festem Blick auf Bismarcks 100. Geburtstag bat er die „alldeutschen Bismärcker in der österreichischen Ostmark“ um eine Spende für ein „Malzeichen […] als dauerndes Sinnbild unserer Treue und Dankbarkeit“. Als Ort schwebte ihm inzwischen sein langjähriger Wallfahrtsort Friedrichsruh vor. Obwohl Marguerite von Bismarck ihm diesen Wunsch verwehrte, beauftragte Schönerer den Salzburger Bildhauer Leo von Moos mit der Herstellung des Denkmals.

Gut fünf Jahre später traf das Werk im Sachsenwald ein, nicht bei Marguerite von Bismarck in Friedrichsruh, sondern bei Emil Specht in Aumühle. Der der Familie von Bismarck eng verbundene Kaufmann hatte Schönerer einen Platz an seinem Bismarck-Turm zur Verfügung gestellt. Die Enthüllung fand am 1. April 1921 statt – in Anwesenheit einer kleinen Delegation alldeutscher Ostmärker, Emil Spechts wie auch Marguerite von Bismarcks, aber ohne Schönerer, der aus gesundheitlichen Gründen nicht anreiste. Am 14. August 1921 starb er auf seinem Schloss in Rosenau und verließ diese Welt in der Hoffnung, seine letzte Ruhe in der Nähe Bismarcks zu finden.

In Erfüllung ging dieser Wunsch nur deshalb, weil Emil Specht ein Jahr später für Schönerer eine Grabstelle auf dem Aumühler Friedhof erwarb. Die Kirchengemeinde hatte der Bestattung in einem „Ehrengrab“ „auf Friedhofsdauer“ zugestimmt. Die Beisetzung fand am 1. April 1922 statt. Fünf Monate später, am 1. September 1922, folgte die Bestattung von Schönerers Frau Philippine, allerdings nicht in der Gruft ihres Mannes, sondern in einem anliegenden Erdgrab.

Hitler und Schönerer

Dass Schönerers Bismarck-Denkmal und seine letzte Ruhestätte späteren Aumühler Generationen ein Dorn im Auge sein würden, wird wohl nur dann verständlich, wenn man seine Bedeutung für Hitler in den Blick nimmt. Schon als Schüler in Linz hatte Hitler sich vom „Reiz der Symbole und Gesänge von Schönerers schrillem alldeutschen Nationalismus“ (Ian Kershaw) faszinieren lassen. Wirklich beeinflussen sollten ihn dessen Ideen dann in seinen Wiener Jahren von 1908 bis 1913, als Schönerer freilich „nur noch als Kultfigur seiner Anhänger [diente], nicht aber persönlich präsent war“, wie Brigitte Hamann schreibt. Ob Schönerer als Hitlers geistiger Vater betrachtet werden kann oder doch ‚nur‘ ein ideologischer Wegbereiter seines Antisemitismus, nicht aber allgemein politisches Vorbild gewesen war, gilt in der Geschichtswissenschaft als umstritten. Kein Zweifel besteht jedoch daran, dass Hitler sich von Schönerers Nationalismus und Judenhass hat einnehmen lassen.

Aumühles Umgang mit dem problematischen Erbe

Jahrzehntelang sollten das Bismarck-Denkmal und die Grabstätte Schönerers der Gemeinde Aumühle kein größeres Kopfzerbrechen bereiten. Erst die Gründung der Otto-von-Bismarck-Stiftung löste eine heftige lokale Debatte über die Frage aus, an wen wie erinnert werden sollte. Anfang April 1996 beschloss der Hauptausschuss der Gemeindevertretung in nichtöffentlicher Sitzung, den Gedenkstein nicht zu verändern. Trotz der vereinbarten Vertraulichkeit wurde das Abstimmungsergebnis der Bergedorfer Zeitung zugespielt, was dem in Aumühle lebenden ehemaligen NDR-Journalisten Erhard Herzig zu einer publizistischen Breitseite gegen den Stein wie auch gegen die Ruhestätte Schönerers veranlasste.

Aumühles CDU mit Fraktionschef Carl-Eduard von Bismarck an der Spitze fuhr sofort schweres Geschütz gegen den Artikel auf, wies den darin erhobenen „Vorwurf des Antisemitismus mit aller Schärfe“ zurück und drohte bei Wiederholung den Einsatz nicht näher spezifizierter Gegenmittel an. Dass der Vorwurf nicht gegen Bismarck, sondern gegen Schönerer gerichtet war, blieb unerwähnt. Obwohl der Hauptausschuss wenig später anregte, am Denkmal eine erläuternde Tafel aufzustellen, erklärten die CDU- und die UWG-Fraktion die Angelegenheit mit dem Argument für „erledigt“, es handele sich um ein Bismarck-, nicht um ein Schönerer-Denkmal. Demgegenüber wartete die SPD-Fraktion mit dem Vorschlag auf, der von ihr so genannte „Schandfleck“ solle zur Otto-von-Bismarck-Stiftung nach Friedrichsruh versetzt und dort wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Da Bürgermeister Michael Schimanel den Beschluss des Hauptausschusses gegenüber den Fraktionen nicht durchsetzen konnte und diese ihrerseits keinen Konsens fanden, blieb es einstweilen beim Status quo. Zwar beauftragte der Hauptausschuss den Bürgermeister drei Jahre später mit denkbar knapper 4:3 Mehrheit, die Otto-von-Bismarck-Stiftung um einen historisch-kritischen Text für eine Informationstafel zu bitten. Doch da die politischen Vertreter sich nicht auf einen Text verständigen konnten, loderte der Streit über die Erinnerungskultur in Aumühle ergebnislos weiter.

Anhänger der rechtsextremen Partei „Der Dritte Weg“ pilgerten im Januar 2021 zum Bismarck-Denkmal, stellten Lichter auf und überklebten die Informationstafel mit „150 Jahre Deutsches Reich 1871 – 2021“ (Foto: privat)

Zu einem Durchbruch kam es erst im Herbst 2000, als der neue Bürgermeister Dieter Giese das Landesamt für Denkmalpflege um eine Stellungnahme bat und die Gemeindevertretung nachdrücklich aufforderte, das Problem endlich zu lösen. Tatsächlich sollte das Plazet der Denkmalpfleger den Streit der Fraktionen entkrampfen. In ihrer Antwort bezeichneten sie den Gedenkstein als „Kulturdenkmal im Sinne […] des Schleswig-Holsteinischen Denkmalschutzgesetzes“ und erklärten dessen Erhalt zu einem öffentlichen Interesse. Zur Begründung wies die Behörde darauf hin, dass der geltende Denkmalbegriff „nicht nur „schöne“, sondern auch „häßliche“ Dinge umfasse. „Über ein halbes Jahrhundert nach Ende des dritten [sic!] Reiches Spuren der Menschen verwischen zu wollen, die Adolf Hitler beeinflußt haben, signalisiert mangelndes Vertrauen in unsere Demokratie. So kann man Geschichte allenfalls verdrängen, nicht aber aufarbeiten und bewältigen.“

Anfang 2001 folgte die Gemeindevertretung dem Votum der Denkmalschutzbehörde und beschloss, neben dem Denkmal eine Gedenktafel aufzustellen, so wie es der Hauptausschuss schon 1996 empfohlen hatte. Mit der Errichtung der optisch betont schlicht gehaltenen Informationstafel Mitte Juli hoffte die Gemeinde, über den Bismarck-Stein aufklären und dessen nationalistische Inschrift „entschärfen“ zu können.

Auf eine ganz ähnliche Weise ‚entschärft‘ worden war inzwischen auch die Debatte über Schönerers Ruhestätte. Einen ersten Anstoß hatte dazu eine seit Jahren geplante Erweiterung des Friedhofs geboten, die es notwendig machte, das Grab umzulegen. Die Anfang 1997 erfolgte Umbettung war indes nur möglich, weil die Grabstätte mangels eines Rechtsnachfolgers „an die Kirchengemeinde zurückgefallen“ war und der Vorstand der Kirchengemeinde im August 1996 die Streichung der Bezeichnung Ehrengrab im Grabregister veranlasst hatte. Damit die neue Grabanlage „nicht so prominent“ erscheine, beschloss der Friedhofsausschuss, sie durch Büsche etc. „optisch einwachsen“ zu lassen.

Nicht alle Aumühler Bürger fanden diese Lösung zureichend. Erhard Herzig etwa forderte die Kirchengemeinde Mitte 1999 historisch nicht eben sattelfest auf, sich endlich mit dem „Prachtgrab“ des „Begründer[s] des rassischen Antisemitismus“ und „politischen Verbrecher[s]“ auseinanderzusetzen. Kurz darauf wandte er sich an den Bischof der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, um eine Einebnung des Grabes zu erwirken. Doch da der Bischof dies unter Hinweis auf „rechtliche Verpflichtungen“ ablehnte, sah sich der Friedhofsausschuss Ende 1999 veranlasst, das Schönerer-Grab „als friedhofseigene Flächen mit einfachen Mitteln“ zu erhalten. Auf Vorschlag von Pastor Georg Laitenberger ergänzte das Gremium den Beschluss mit der Maßgabe, eine „erklärende Legendentafel“ aufstellen zu lassen.

Neuerliche Debatten innerhalb der Kirchengemeinde führten allerdings auch hier zu weiteren Verzögerungen, so dass die semantisch an das Schild am Gedenkstein angepasste Tafel erst im Frühjahr 2001 angebracht werden konnte. Die weithin erhoffte Ruhe um die beiden ‚Steine des Anstoßes‘ blieb trügerisch.

Resümee

In intensiven Forschungen über die Entstehung und Ausformung des Bismarck-Mythos im Deutschen Kaiserreich hat die Geschichtswissenschaft herausgearbeitet, dass der erste Reichskanzler für seine Verehrer im Zuge eines überhitzten Nationalismus zu einem Identifikationssymbol wurde, in das sich unerfüllte Wünsche projizieren ließen. Auch für manchen Österreicher war Bismarck ein Held. Die von Schönerer und seinen Anhängern betriebenen Huldigungen reichten jedoch über das in der Habsburger-Monarchie übliche Maß der Mythisierung weit hinaus.

Die Ehrerbietungen seiner deutschen Fangemeinde genoss Bismarck nicht nur, er befeuerte sie noch. Zu seinem österreichischen ‚Oberfan‘ hielt er hingegen stets Distanz. Allerdings scheint die auf den Tafeln am Gedenkstein und am Grab aufgestellte Behauptung, Bismarck habe Schönerer „abgelehnt“, quellenmäßig nicht stichhaltig. Zumindest war die Kluft nicht so groß, dass Bismarck dessen Glückwünsche, Publikationen oder Geschenke zurückgeschickt hätte. Folglich kann auch nicht davon die Rede sein, dass Schönerer Bismarcks Namen missbraucht habe. Wäre dem so gewesen, hätte Bismarck anders auf die Zudringlichkeiten reagiert, hätte sein Sohn Herbert Schönerer kaum die Tür zum Sterbezimmer bzw. zur Gruftkapelle seines Vaters geöffnet und erst recht nicht die Schönerianer 1903 persönlich begrüßt. Entschieden zurückzuweisen ist schließlich die Annahme von Spechts Enkelin Greth Ingel von Tümpling, Herberts Witwe Marguerite habe die Aufstellung des von Schönerer gestifteten Bismarck-Gedenksteins in Friedrichsruh abgelehnt, weil sie den Stifter „inakzeptabel“ gefunden hätte. Marguerite von Bismarck billigte nicht nur in der Tradition ihres Mannes die Schönerer-Wallfahrten, sie untermauerte sie noch mit persönlichen Freundlichkeiten bis hin zur Teilnahme an der Zeremonie der Aufstellung des Gedenksteins – wenn auch nicht in Friedrichsruh, so doch in Aumühle. Wie aus jüngst erschienenen Publikationen von Andrea Hopp und Ulf Morgenstern zu erfahren ist, besaß Bismarcks Schwiegertochter nicht nur weniger Vorbehalte als er gegenüber dem Antisemitismus Schönerers, sondern in der aufgewühlten Nachrevolutionszeit der frühen 1920er-Jahre offenbar auch weniger Skrupel, das historische Erbe ihres Schwiegervaters mithilfe zwielichtiger Zeitgenossen zu schützen.

100 Jahre nach der Aufstellung der beiden ‚Steine des Anstoßes‘ und zwanzig Jahre nach den Entscheidungen der politischen und der Kirchengemeinde Aumühles über einen zeitgemäßen Umgang mit ihnen scheint eine Lehre naheliegend, ja geboten: Überall dort, wo wir in unseren Kommunen mit schwierigen Erbschaften unserer Geschichte konfrontiert sind, sollten wir die Debatte annehmen – transparent, gesellschaftlich möglichst breit fundiert und im Entscheidungshandeln demokratisch-kritisch.


Stark gekürzte Fassung des Vortrags, der am 27. Oktober 2022 im Historischen Bahnhof Friedrichsruh gehalten wurde. Die vollständige Fassung einschließlich aller Quellennachweise wird demnächst in gedruckter Form erscheinen.

Literaturauswahl:

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955

Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt am Main/Berlin 1973

Robert Gerwarth, Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler, München 2007

Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, 3. Aufl., München/Zürich 1996

Lothar Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882-1918, Wien u. a. 1993

Andrea Hopp, Im Schatten des Staatsmanns. Johanna, Marie und Marguerite von Bismarck als adlige Akteurinnen (1824–1945), Paderborn 2022

Ian Kershaw, Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998

Lothar Machtan (Hrsg.), Bismarck und der deutsche National-Mythos, Bremen 1994

Ulf Morgenstern, Das Ende des Kaiserreichs in der Familie des Reichsgründers. Wahrnehmungen von Revolution und Republik bei den Bismarcks in Friedrichsruh, in: Johanna Meyer-Lenz / Franklin Kopitzsch / Markus Hedrich (Hrsg.), Hamburg in der Novemberrevolution von 1918/19. Dynamiken der politischen und gesellschaftlichen Transformation in der urbanen Metropole, Bielefeld 2022, S. 355-374

Eduard Pichl, Georg Schönerer, 6 Bde. in 3 Doppelbänden, 3. Aufl., Oldenburg 1938

Andrew Whiteside, Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1981

Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k.u.k. Monarchie, Wien/Köln/Weimar 2005