Kalenderblatt: Großes Fest im Schloss Versailles

Großes Fest im Schloss Versailles, das seit 1837 Nationalmuseum ist. Kolorierter Stahlstich von Charles Rolls (1799 –1885), nach Eugene Louis Lami (1800 –1890), Großbritannien, 1843 (Otto-von-Bismarck-Stiftung, Inventar-Nr.: ZSg 2751)

Auf diesem Fest in Versailles war die feminine „Stundenglas-Silhouette“ unverkennbar angesagt. Der 1843 gedruckte Stich verrät aber nicht nur etwas über Stoffe und Schnitte, sondern vermittelt mit der Mode seiner Zeit auch Hinweise auf die Rolle, die den Damen der Gesellschaft zugewiesen wurde.

Die „Stundenglas-Silhouette“ war ein wichtiges Element der Neorokoko-Mode, die sich seit dem Ende der 1820er-Jahre entwickelt hatte. Der Stil wurde auch bald „Louis-Philippe“ genannt, nach dem von 1830 bis 1848 in Frankreich amtierenden König. Für die Damen, die sich eine teure Garderobe leisten konnten, endete mit dem Neorokoko die Zeit der fließenden Stoffe. „Die Taille war wieder an ihrer natürlichen Stelle“, ist bei der Kulturwissenschaftlerin Valeria Butera nachzulesen, „aber ungünstig modelliert – mindestens aus einer gesundheitlichen Sicht: Quälend enge Korsette betonten die sogenannte Wespentaille. Diese scheinbar ästhetische Moderichtung hatte bei einer genauen Betrachtung auch eine soziale Auswirkung: bei einer so geringen Bewegungsfreiheit der Frauen traten die Repräsentationszwecke der Damen der Oberschicht, die nicht arbeiten [mussten], in den Vordergrund.“

Diese Mode knüpfte an die Zeit vor der Französischen Revolution an. Mit der modischen Absetzung von der arbeitenden Bevölkerung – auch in der Herren-Garderobe mit engen Hosen und kurzen Jacken – nahm man Abstand von den Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die wenigen Rechte, die Frauen in der Französischen Revolution kurzzeitig erstritten hatten, waren zu diesem Zeitpunkt nicht nur bereits fast vollständig wieder zurückgenommen worden. Mit dem unter Napoléon I. erlassenen Code Civil von 1804 wurde die Ehefrau nun auch noch zum Gehorsam gegenüber ihrem Ehemann verpflichtet. Erhalten geblieben seien einzig, schreibt Alina Millinger, die Volljährigkeit mit 21 Jahren und der Anspruch der Töchter auf ein Erbe. Die rechtliche, politische und soziale Gleichstellung, die Olympe de Gouges 1791 in der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne) gefordert hatte, blieb zunächst unerfüllt. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht sollte für die Französinnen erst im Jahr 1944 eingeführt werden.

Die Vorliebe für die „Stundenglas-Silhouette“ aber überlebte nicht nur den langen Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern auch die Auflösung der Stände, Kriege und politische Systemwechsel. So wird heute noch bei einem wichtigen Ereignis, über Epochen- und Ländergrenzen hinweg, oftmals ein Kleid im Stil des Neorokoko getragen. Diese Tradition etablierte allerdings keine Französin, sondern eine Britin: 1840 heiratete die fast 21-jährige Königin Victoria in einem Brautkleid aus cremefarbenem Seidensatin mit Spitzenbesatz an Hals und Ärmeln, wie das Textilmuseum St. Gallen in der Ausstellung Robes politiques – Frauen Macht Mode informiert. „Mit seiner schlanken Taille, dem üppigen Rock und der weissen Farbe gilt das Kleid bis heute als Urtyp des klassisch-westlichen Brautkleides.“

Quellen:

Valeria Butera: Leitfäden für die Dame à la page: französische Modekupfer des 19. Jahrhunderts, Deutsches Historisches Museum, Blog, 2022

Olympe de Gouges, Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne, 1791

Alina Millinger: Frauenrechte in Frankreich: von den Forderungen Olympe de Gouges bis heute, Bachelorarbeit, Pädagogische Hochschule Freiburg 2021

Christoph Sorge: Die Hörigkeit der Ehefrau. Entstehungsgeschichte und Entwicklungslinien von Art. 213 Code civil 1804 sowie Kritik der französischen Frauenbewegung; in: Stephan Meder/Christoph-Eric Mecke (Hg.), Reformforderungen zum Familienrecht international, Bd. 1: Westeuropa und die USA (1830-1914), Köln u.a. 2015, S. 126-188

Textilmuseum St. Gallen: Robes politiques – Frauen Macht Mode, Ausstellung vom 19.03.2021 – 06.02.2022


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