Staatskunst in den Augen Henry Kissingers

Henry Kissinger, Fotografie von Bernard Gotfryd, New York City 1982 (Library of Congress, gemeinfrei)

Als streitbar und umstritten gilt er, der frühere US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger1. Dennoch finden seine nicht selten monumentalen Bücher ein aufmerksames Publikum. Seit nunmehr 60 Jahren befasst er sich darin mit den „Herausforderungen der Macht“ und den „Antworten der Staatskunst“2 – zunächst als Historiker an der Harvard University, dann als politischer Akteur der US-amerikanischen Administration und Memoirenschreiber, schließlich als Elder Statesman3. Nun liegt sein neuestes Werk vor: „Staatskunst“4.

Der Titel führt ein wenig in die Irre, geht es in den „sechs Lektionen für das 21. Jahrhunderts“ nicht eigentlich um die breite analytische Durchdringung dessen, was „Staatskunst“ ist oder Kissinger dafür hält, sondern um einige von ihm ausgewählte Staatenlenker und eine Staatenlenkerin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Allerdings webt Kissinger in die biografischen Beschreibungen immer wieder Erörterungen darüber ein, was er unter „großer Staatskunst“ versteht: „die Fähigkeit, langfristig zu inspirieren und eine Vision am Leben zu erhalten“ (S. 76); die Kraft, „geerbt[e] Umstände“ zu überwinden und „Gesellschaften an die Grenzen des Möglichen“ zu führen (S. 25); das Geschick, „sich nicht von der Stimmung des Augenblicks mitreißen zu lassen“ (S. 375).

Nach einem prägnanten Kapitel über Konrad Adenauer schlägt Kissinger den Bogen von Charles de Gaulle und Richard Nixon über Anwar al-Sadat und Lee Kuan Yew bis hin zu Margaret Thatcher, alle kannte er persönlich. Was die Riege der Porträtierten auszeichnet und zugleich eint, waren Kissinger zufolge ihr „ausgeprägter Sinn für die politischen Realitäten und eine starke Vision“ (S. 526), der Wille zur Macht und der Wunsch nach grundlegender Veränderung, aber auch Mut, Weitsicht und Charakter.

Prägte Adenauer in den Augen Kissingers die geradezu revolutionäre Politik, „Deutschland“ durch die Westbindung „wieder einen Platz in der Welt zu verschaffen“ (S. 40), steht de Gaulle für „die Schaffung einer politischen Realität durch bloße Willenskraft“ (S. 117) und die unbeirrbare Verfolgung des Ziels, Frankreich zu einer „große[n] und unabhängige[n] Nation“ zu machen (S. 93). Nixon wiederum würdigt Kissinger für seinen „fundamental geostrategischen Ansatz“ (S. 227), die Öffnung der USA gegenüber China, die Beendigung des Vietnamkriegs und die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion. Sadat rühmt Kissinger für die „Vision einer wertebasierten internationalen Ordnung souveräner Staaten“ (S. 367) und für den mit dem Leben bezahlten Brückenschlag zu Israel. Kuan Yews Größe sieht er, trotz dessen zwiespältigem Verhältnis zur Demokratie, in der Umwandlung der britischen Kronkolonie Singapur in einen modernen Staat durch Überwindung der bisherigen Geschichte und Entwicklung eines nationalen Selbstverständnisses. Thatchers Verdienst schließlich besteht seines Erachtens in der „Wiederbelebung Großbritanniens“ nach Jahren des Niedergangs und der „völlige[n] Neugestaltung der Gesellschaft“ (S. 511), auch wenn sie zu sozialen Verwerfungen führte.

Kissinger wäre nicht Kissinger, wenn er in seiner Beschreibung der Politik der Sechs nicht die eigenen Maximen politischen Handelns durchschimmern ließe: das Streben nach einem Gleichgewicht der Mächte; die Suche nach einer Weltordnung; die de Gaulle zugeschriebene Überzeugung, dass „das internationale Leben [der Völker] ist, wie das Leben im Allgemeinen, ein ständiger Kampf“ (S. 154); die Nixon entlehnte Definition von Frieden als „Zustand eines fragilen und fluiden Gleichgewichts der Kräfte zwischen den Großmächten“ (S. 195); die Auffassung Kuan Yews, dass auch der überzeugteste Realpolitiker nicht ausschließlich realistisch denken dürfe, sondern sich von Möglichkeiten inspirieren lassen müsse; die allen sechs Staatenlenkern testierte Bereitschaft, das als richtig Erkannte notfalls auch gegen innenpolitische Kritik durchzusetzen. Denn Widerstände zu brechen, ist für Kissinger „der Preis, der zu zahlen ist, wenn man Geschichte schreiben will“ (S. 528).

Auch Otto von Bismarck findet in Kissingers monumentalem Werk Erwähnung, zwar nur am Rande, aber gleichwohl in sehr prägnanter Weise. Im Kapitel über de Gaulle berichtet der Autor, dass er den Reichskanzler dem General gegenüber auf einem Empfang 1969 als die beeindruckendste Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts bezeichnet habe. Auf die Frage de Gaulles, welche Eigenschaft ihm besonders imponiere, antwortete Kissinger: die „Mäßigung“, die Bismarck beim deutsch-französischen Krieg aber leider habe vermissen lassen. Der Präsident hingegen meinte diesem Versäumnis durchaus Positives abgewinnen zu können, weil es Frankreich die Möglichkeit gegeben habe, „das Elsass zurückzuerobern“ (S. 85).

Ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Bismarck misst Kissinger der britischen Premierministerin Margaret Thatcher zu. Als eine sowjetische Zeitung die Chefin der britischen Konservativen Partei 1976 in Analogie zu Bismarck als „Eiserne Lady“ titulierte, deutete Thatcher die beabsichtigte Beleidigung in ein „Kompliment“ um (S. 478). Knapp zehn Jahre später hatte sich ihr Bismarck-Bild offenbar gravierend gewandelt. 1988 erinnerte Kissinger in einem Toast auf Thatcher an Bismarcks berühmtes Wort vom Zipfel des Mantels Gottes5. Thatcher hatte seine Rede zunächst nur mit halbem Ohr verfolgt und erkundigte sich, wen Kissinger zitiert habe. „Bismarck, den Deutschen?“, meinte sie ungehalten, und als die Frage bejahrt wurde, antwortete sie unvermittelt: „Zeit heimzugehen.“ (S. 498).

Kissingers großes Werk liefert, wie dargelegt, nicht nur köstliche Anekdoten, sondern auch tiefgründige Einsichten in das politische Denken großer Staatenlenker des 20. Jahrhunderts. Der mit der Zeitgeschichte bewanderte Historiker wird hier und da Kritik anmelden. Die Quellen- und Literaturbasis weist manche Lücke oder Einseitigkeit auf und nicht jeder inhaltlichen These vermag man zu folgen. Reibungspotential bietet vor allem die Entscheidung, Nixon in das Pantheon der historisch Großen aufzunehmen, obwohl die Watergate-Affäre doch deutlich zu erkennen gab, dass dem Präsidenten die laut Kissinger „unentbehrlichste aller menschlichen Eigenschaften“ fehlte: Charakter (S. 535). Doch alle diese Ausstellungen verblassen hinter der Leistung des fast einhundertjährigen Autors, der Fülle seiner luziden Einzelstudien und Einsichten. Dazu gehört gewiss auch die Erkenntnis, dass historisches Wissen für die Führung von Staaten „notwendig, aber nicht hinreichend“ sei. Mag die Geschichte auch eine unerbittliche Lehrmeisterin sein, lehrt sie doch ‚nur‘ „durch Analogie“ und nur dann, wenn die „Entscheidungsträger“ fähig sind, sie „verantwortlich an die Umstände ihrer eigenen Zeit anzupassen“ (S. 14).


1. Wie disparat das Urteil der Historiker über ihn ausfällt, zeigen pars pro toto zwei aktuellere Biografien: Niall Ferguson, Kissinger: Der Idealist. 1923-1968, Bd.1, Berlin 2016; Bernd Greiner, Henry Kissinger: Wächter des Imperiums, München 2020.

2. Klaus Hildebrand, Von Richelieu bis Kissinger. Die Herausforderungen der Macht und die Antworten der Staatskunst, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995), S. 195-219.

3. Aus der umfangreichen Publikationsliste seien nur die folgenden Titel genannt: Henry A. Kissinger, Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs, Düsseldorf/Wien 1962; ders., Memoiren, Bd.1 1968–1973, Bd.2 1973–1974, München 1979 u. 1982; ders., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994; ders., Weltordnung, München 2014.

4. Henry Kissinger, Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert, München 2022.

5. „Man kann nicht selber etwas schaffen; man kann nur abwarten, bis man den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann vorspringen und den Zipfel seines Mantels zu fassen – das ist Alles“. Zitiert nach: Arnold Oskar Meyer, Bismarcks Glaube. Nach neuen Quellen aus dem Familienarchiv, 2. Aufl., München 1933, S. 7.