Bismarck, der Parlamentarier – Gedanken zum 3. Februar 1847

Otto von Bismarcks erste Wahlrede, gehalten in Rathenow. Er kandidierte für das neu geschaffene Preußische Abgeordnetenhaus, das im Februar 1849 zum ersten Mal zusammentrat (Zeichnung von Johann Bahr).

Als Ministerpräsident Preußens und Kanzler des Deutschen Reiches ging Otto von Bismarck in die Geschichte ein. Dass seine politische Karriere als Parlamentarier begann, ist weithin in Vergessenheit geraten. Nicht selten stempeln Wissenschaft und Öffentlichkeit ihn gar zum Gegner des Parlamentarismus und halten ihm vor, die Parlamentarisierung des Kaiserreichs blockiert zu haben. Doch die Wahrheit ist, wie so oft im Falle Bismarcks, vielschichtig und ambivalent.

Wenige Wochen nach seiner Geburt am 1. April 1815 hatten sich die Staaten des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongress darauf verständigt, „landständische Verfassungen“ zu erlassen. Mancher Bundesfürst kam dem Versprechen bald nach. Bismarcks König hingegen, Friedrich Wilhelm III. von Preußen, zögerte die Einführung einer Konstitution nach Kräften hinaus. Auch die Bildung eines repräsentativen Parlaments lehnte er ab, begnügte sich 1823 mit der Einberufung sogenannter Provinziallandtage, die nicht aus Abgeordneten der Bevölkerung, sondern aus Vertretern der Stände zusammengesetzt waren.

Einen zaghaften Reformschritt wagte Preußen erst unter König Friedrich Wilhelm IV. Am 3. Februar 1847, vor 175 Jahren, erließ der seit 1840 regierende Sohn Friedrich Wilhelms III. ein Patent, mit dem er die rechtlichen Grundlagen für eine aus Delegierten aller acht Provinziallandtage bestehende gesamtstaatliche Körperschaft schuf. Die Urkunde übertrug dem Gremium einen engumrissenen Auftrag. Der Erste Vereinigte Landtag sollte eine Anleihe bewilligen, mit der der Monarch den Bau einer Eisenbahnstrecke von Berlin nach Königsberg zu finanzieren gedachte. Um dem Landtag weiterreichende Beschlüsse im antiroyalistischen Sinn zu erschweren, ließ Friedrich Wilhelm IV. ihn in zwei „Kurien“ teilen, eine „Herrenkurie“ als Vertretung der Fürsten und Standesherren sowie eine „Kurie der drei Stände“ des Landadels, der städtischen Grundbesitzer und der Großbauern.

Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. erließ am 3. Februar 1847 ein Patent, auf dessen Grundlage zum ersten Mal eine landesweite Vertretung der Provenziallandtage zusammenkam (Daguerreotypie von Hermann Biow, 1847).

Nach der Eröffnung am 11. April 1847 machten die Delegierten rasch klar, dass ihnen die Einschränkungen des Monarchen nicht zusagten. Nach lebhaften Debatten verabschiedeten sie am 20. April eine Adresse, in der sie vom König die regelmäßige Einberufung des Landtags, das Recht auf Zustimmung zu Gesetzen und die Beseitigung ständischer Diskriminierungen verlangten. In seiner Antwort vom 22. April wies Friedrich Wilhelm IV. die Forderungen weitgehend zurück. Trotz Anerkennung der sachlichen Notwendigkeit der Bahn-Anleihe verweigerte ihm der Erste Vereinigte Landtag daraufhin die Gefolgschaft.

Otto von Bismarck konnte an den Debatten nur dank eines für ihn glücklichen Umstands teilnehmen. Nachdem ein Abgeordneter sein Mandat aus Krankheitsgründen hatte niederlegen müssen, rückte der Gutsherr aus Schönhausen im Mai 1847 als Delegierter des Provinziallandtags der Provinz Sachsen nach. Sofort präsentierte er sich als entschiedener Verfechter konservativ-monarchischer Interessen und trat den Bestrebungen der Liberalen, das Ständegremium in ein parlamentarisches Repräsentativorgan umzuwandeln, kategorisch entgegen.

Ende Juni 1847 wurde der Erste Vereinigte Landtag ohne greifbare Ergebnisse geschlossen. Zehn Monate später kamen die Delegierten unter völlig veränderten politischen Rahmenbedingungen erneut zusammen. Seit Februar 1848 rollte von Paris aus eine große Revolutionswelle über Europa hinweg, die auch Berlin nicht verschonte.

Eigentlich hatte Friedrich Wilhelm IV. geplant, die Ständevertretung erst nach vier Jahren wieder tagen zu lassen. Um dem Ruf der Öffentlichkeit nach einer Volksvertretung zuvorzukommen, berief der König das Gremium jedoch schon im April 1848 ein. Unter dem Druck der Revolution nahm er sogar hin, dass der Zweite Vereinigte Landtag die Bildung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung beschloss. Zwar erzwang der Monarch mit Hilfe der gegenrevolutionären Kräfte Anfang Dezember die Auflösung des Landtages, setzte jedoch zugleich eine Verfassung ein. Auch wenn sie nicht von der Berliner Nationalversammlung verabschiedet worden war, beendete sie in Preußen die Zeit des Absolutismus. Die ihm im April 1849 von der Frankfurter Nationalversammlung angetragene Kaiserkrone lehnte Friedrich Wilhelm IV. jedoch ab und trug so nicht unmaßgeblich dazu bei, dass die Revolution in Deutschland scheitern sollte.

Bismarck war nach der Schließung des Zweiten Vereinigten Landtags nicht in die Preußische Nationalversammlung gewählt worden und errang auch nur mit Mühe im Februar 1849 einen Sitz im neu geschaffenen Preußischen Abgeordnetenhaus. Dass der König die Kaiserkrone ausschlug, nahm er mit Wohlgefallen zur Kenntnis. Weit weniger Sympathie brachte er dem vom Monarchen geplanten Umbau des Deutschen Bundes in zwei locker verbundene Einheiten aus dem österreichischen Kaiserreich und einer Deutschen Union entgegen, der alle Staaten des Deutschen Bundes außer Österreich, Hannover, Sachsen, Württemberg und Bayern angehörten. Als ein „Volkshaus“ der Unionsstaaten im Frühjahr 1850 in Erfurt einen Verfassungsentwurf der Regierungen beriet, warnte der Abgeordnete des Wahlkreises Westhavelland-Zauche dort unablässig davor, dass die Union Preußen unterwerfen könne.

Nach dem Scheitern des Unionsplans geriet Preußen mit Österreich über die Neugestaltung des Deutschen Bundes an den Rand eines Krieges. Vermieden werden konnte die militärische Auseinandersetzung nur deshalb, weil Friedrich Wilhelm IV. unter russischem Druck in der „Olmützer Punktation“ vom 29. November 1850 akzeptierte, dass die Reform des Bundes in die Obhut der Mitgliedsstaaten gelegt werden solle. Während Preußens Liberale und ein Teil der Konservativen diese Einigung als Schmach attackierten, stimmte Bismarck ihr demonstrativ zu. Das Beharren auf dem Unionsplan hätte seines Erachtens „einen Krieg in großem Maßstabe“ bedeutet, den er zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu vermeiden wünschte. „Warum führen große Staaten heutzutage Krieg?“, fragte er am 3. Dezember 1850 suggestiv im Preußischen Abgeordnetenhaus und präsentierte dann eine geradezu zeitlose Antwort: „Die einzig gesunde Grundlage eines großen Staates […] ist der staatliche Egoismus und nicht die Romantik, und es ist eines großen Staates nicht würdig, für eine Sache zu streiten, die nicht seinem eigenen Interesse angehört.“

Obwohl er selbst seine politische Karriere als Abgeordneter begonnen hatte, schätze Bismarck den Reichstag nicht. Seine Loyalität galt nicht der Volksvertretung, sondern einzig der Monarchie (Bismarck im Reichstag, Reproduktion eines Gemäldes von Friedrich Klein-Kerkow, 1909).

Wenig Monate darauf beendete Bismarck seine Abgeordnetenkarriere, wurde Diplomat, später Ministerpräsident und Reichskanzler. Sein Verhältnis zum Preußischen Landtag bzw. Deutschen Reichstag entfaltete sich nicht unproblematisch. „Der Bedarf an parlamentarischer Mitwirkung“, so formulierte er seine Haltung einmal grundsätzlich, stehe „im umgekehrten Verhältnisse zu der Einsicht der regierenden Staatsmänner. Bei sachkundiger und verständiger ministerieller Leitung kann das Land die parlamentarische Autorität und die durch sie vorzunehmende Korrektur der Regierungspolitik in höherem Maße entbehren als bei Mangel guter ministerieller Geschäftsführung.“ Als Ideal schwebte Bismarck ein „Gleichgewicht der beiden verfassungsmäßigen Gewalten, Krone und Parlament“ vor. Die „parlamentarische Mitwirkung“ an den Staatsgeschäften hielt er für „notwendig,“ eine „parlamentarische Herrschaft“ hingegen für „schädlich“.

Konsequenterweise widersetzte sich Bismarck seit 1871 allen Bemühungen um eine Weiterentwicklung des Kaiserreichs zu einem bürgerlich-liberalen Parlamentsstaat. Mitunter bezweifelte er sogar, „ob der jetzige Parlamentarismus mit dem Wohle des Reichs noch vereinbar sei“. Als Kronprinz Friedrich Wilhelm 1885 seine Bereitschaft sondierte, im Falle eines Thronwechsels im Amt zu bleiben, machte der Reichskanzler die Zusage von einer fundamentalen Bedingung abhängig: „keine Parlamentsregierung“.

Wie der Passauer Historiker Hans-Christof Kraus zurecht herausgestellt hat, lehnte Bismarck eine parlamentarische Regierung nicht „im Prinzip“ ab, hielt deren Einführung aber wegen der von ihm so wahrgenommenen „Unreife der Parlamentspolitiker“ noch für unmöglich. Sich selbst überlassen, würden 400 kluge Abgeordnete „im Parlamente einen Narren machen“, notierte er einmal sarkastisch. Gleichwohl sollte Bismarck nie vergessen, dass seine politische Laufbahn als Parlamentarier begonnen hatte. „Von mir hätte niemand etwas erfahren in meiner ländlichen Zurückgezogenheit, wenn ich nicht zufällig Mitglied des Vereinigten Landtags von 1847 gewesen wäre“, gab er 1881 im Reichstag zu Protokoll und fügte fast stolz hinzu: Wenn er von Parlamentariern rede, rechne er sich selbst stets dazu.

Trotz aller Beschränkungen war das Patent Friedrich Wilhelms IV. vom 3. Februar 1847 ein wichtiger Baustein auf Preußen-Deutschlands steinigem Weg zu einer konstitutionellen Monarchie, einer Monarchie, in der der Reichstag seit 1867/71 immer größere Bedeutung gewann. Von einer „stillen Parlamentarisierung“ des Deutschen Reichs zu sprechen (Manfred Rauh), erscheint jedoch zumindest dann fragwürdig, wenn man darunter eine gradlinige oder gar zwingende Entwicklung vom konstitutionellen in ein parlamentarisches System versteht.


Literatur:

Hans-Christof Kraus, Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen, Stuttgart 2015

Johannes Gerhardt, Der Erste Vereinigte Landtag in Preußen von 1847. Untersuchungen zu einer ständischen Körperschaft im Vorfeld der Revolution von 1848/49, Berlin 2007

Manfred Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1973