Bismarck und die „Weltmacht auf Abruf“

Am Anfang und Ende des Kaiserreichs stand der Krieg. – Batterie No. 8 „Kronprinz“, Fotografie, Frankreich, 1870 (Leihgabe Stiftung Schloss Glücksburg für die Sonderausstellung „1870/71. Reichsgründung in Versailles“, 2021/2022)

Nur wenige Publikationen sind mit ihrem Erscheinen als ein Standardwerk zu erkennen, ohne das jede weitere Lektüre wissenschaftlicher Literatur zum Themenfeld unvollständig bliebe. „Weltmacht auf Abruf. Nation, Staat und Verfassung des Deutschen Kaiserreichs (1867 – 1918)“ ist eines dieser seltenen Werke. Herausgeber ist der Politik- und Rechtswissenschaftler Rüdiger Voigt, bis 2007 Professor für Verwaltungswissenschaft an der Universität der Bundeswehr München und Direktor des Instituts für Staatswissenschaften sowie Herausgeber der Reihen „Staatsverständnisse“ und „Staatsdiskurse“.

Ausgangspunkt des Sammelbandes ist die „unfertige[.] Verfassung“ des Kaiserreichs. Da sie nur einen Rahmen für Staat und Politik vorgegeben habe, so Voigt, liege der Fokus auf der Verfassungswirklichkeit. Deren Wandel – durchaus entgegen der Intention des preußischen Ministerpräsidenten und ersten Reichskanzlers Otto von Bismarck, dem maßgeblichen Schöpfer des Verfassungstextes – wird in den Einzelbeiträgen ausgelotet. Diese sind in eine umfangreiche, ausdifferenzierte Systematik eingeordnet. Im Gegensatz zu anderen, rein historiografischen Darstellungen des Kaiserreichs zeichnen sich die Beiträge durch vier Perspektiven aus, wie Voigt in der Einleitung skizziert: durch eine inter- und multidisziplinäre Ausrichtung, eine sozialwissenschaftliche Vorgehensweise, einen starken Bezug zur Verfassung sowie einen „Vergleich mit den wichtigsten Staaten im europäischen Mächtekonzert“ (Österreich, Großbritannien, Russland, Frankreich).

Der erste Blick in das Inhaltsverzeichnis überrascht in einer Hinsicht: Das explizit Bismarck gewidmete Kapitel beginnt erst auf Seite 804 des insgesamt 1.404 Seiten umfassenden Bandes. Beitragsautor Ulf Morgenstern, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung, zeigt in einem verdichteten Porträt den ersten Reichskanzler in seiner Ambivalenz gleichermaßen als „Zauberlehrling“ (Gall in Anlehnung an Goethe) und „weißen Revolutionär“ (Kissinger, Bamberger zitierend). Dabei bündelt er die Erzählstränge, die in vielen der anderen Beiträge zu erkennen sind: Von der Niederschrift der Verfassung bis zu den Sozialversicherungen, von der Außen- und Kolonialpolitik bis zum Sozialistengesetz war Bismarck bis 1890 der zentrale politische Akteur.

„Otto von Bismarck war es, ohne den die Reichseinheit nicht hätte vollendet werden können,“ schreibt Rüdiger Voigt. – Otto von Bismarck, 3. Juli 1871, Fotografie von Loescher & Petsch, Berlin

Bismarcks Fähigkeit, trotz seiner festen Überzeugungen als Monarchist und Preuße seine Politik flexibel an die tatsächlichen Herausforderungen anzupassen, wird vor allem in den Beiträgen über die Reichsgründung und die Diplomatie deutlich. Der zweite Beitrag, der in Friedrichsruh entstanden ist, verweist allerdings auf Bismarcks weitgehendes Scheitern bei der inneren Reichsgründung. Ulrich Lappenküper, Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung, analysiert den „Kulturkampf“ gegen den politischen Katholizismus exemplarisch für Bismarcks Kampf gegen kritische Bevölkerungsgruppen und ethnische Minderheiten: Anstatt sie über politische und soziale Maßnahmen in das neu gegründete Reich zu integrieren, wurden sie Repressionen ausgesetzt.

Die zentrale Rolle, die Bismarck während seiner Regierungszeit in Staat und Politik einnahm – lange Zeit als „Einmann-Regierung“ (Voigt) –, war von ihm selbst gewählt, wie in mehreren Beiträgen deutlich wird: Mit der Verfassung installierte er sich und den Kaiser im Zentrum der Macht und dort blieb er auch bis zu seinem Sturz trotz des ungeplanten Bedeutungszuwachses, den der Reichstag sich als „Zentralort der politischen Kommunikation“ (Wolfram Pyta) erarbeitete.

In den Beiträgen beispielsweise über „Das Kaiserreich und die Frauen“ (Sylvia Schraut) oder „Deutsche Juden und deutsches Judentum“ (Moshe Zimmermann) wird zudem deutlich, dass sich die preußischen Eliten, die das Kaiserreich dominierten, auch in der Ära nach Bismarck politischen Reformen weitgehend verschlossen, obwohl diese angesichts des raschen gesellschaftlichen Wandels – bedingt vor allem durch die wirtschaftlichen Entwicklungen – geboten gewesen wären. Das Kaiserreich aber blieb ein Staat, der auf Reichsebene sein Geld vor allem für das Militär ausgab (Marc Buggeln) und an einer „schroffen sozialen Segmentierung“ festhielt; die Absicht, den Armen einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen, galt als „Obstruktion, staatsfeindlich“ (Ernst-Ulrich Huster).

Abgerundet wird der Band mit zwei Beiträgen, die nach dem politisch-kulturellen Erbe des Kaiserreichs fragen. Wolfram Pyta kann zwar die „Pflege des Föderalismus“, „die Disposition zum politischen Kompromiss und eine auf Parlamentarismus ausgerichtete Demokratiekultur“ als positive Hinterlassenschaften für die Gegenwart identifizieren. In anderen Bereichen – Kolonialpolitik, Antisemitismus – aber war das Kaiserreich, so schreibt er, „ein Laboratorium für Ideen und Praktiken, die im NS-Regime zur ungebremsten destruktiven Entfaltung gelangten“.

Peter Graf Kielmansegg identifiziert abschließend die „deutsche Katastrophe“ (NS-Regime, Zweiter Weltkrieg, Holocaust) als eine mittelbare, wenngleich nicht zwangsläufige Folge des Kaiserreichs. Er geht von der These aus, dass „Modernität und Rückständigkeit“ im Kaiserreich „in besonders problematischer, für den Fortgang der deutschen Geschichte belastender Weise miteinander verbunden“ waren. Das „bismarcksche Verfassungskonstrukt“, wonach das Reich nicht gegen Preußen habe regiert werden können, habe sich angesichts der Rückständigkeit Preußens (Sonderstellung des Militärs in Staat und Gesellschaft, Drei-Klassen-Wahlrecht) nachteilig ausgewirkt: „Das Kaiserreich hat Deutschland nicht das Tor in eine gute Zukunft geöffnet“, sondern im Gegenteil 1914 die Schwelle zum Krieg überschritten. Alle Reformversuche seien damit abgebrochen. Zu den Kriegsfolgen aber habe der Aufschwung des Faschismus im Europa der Zwischenkriegszeit gehört. Und in Deutschland habe sich dieser „des Potenzials einer Großmacht“ bemächtigen können. Das Kaiserreich und insbesondere der Erste Weltkrieg seien damit Ausgangspunkt der „deutschen Katastrophe“ gewesen.

 

Rüdiger Voigt (Hrsg.)
Weltmacht auf Abruf
Nation, Staat und Verfassung des Deutschen Kaiserreichs (1867–1918)
Baden-Baden 2023