Straßburg als Symbol. Ein mentalitätsgeschichtlicher Rückblick
Der Friede von Frankfurt, mit dem im Mai 1871 der Deutsch-Französische Krieg beendet wurde, sicherte dem neu gegründeten Deutschen Reich nicht nur beträchtliche Reparationen. Es gewann als „Reichsland“ auch das Elsass und Lothringen hinzu. Damit wurde vor 150 Jahren die Stadt Straßburg zu einem Symbol, das für Deutsche und Franzosen mit äußerst gegensätzlichen Bedeutungen aufgeladen wurde.
So sehr der Gebietszuwachs rechts des Rheins bejubelt wurde, so sehr wurde er links des Rheins zur Grundlage eines dauerhaften Konflikts mit Deutschland. Der berühmte Ausspruch des republikanischen Politikers Léon Gambetta „Toujours y penser, jamais en parler“ („Immer daran denken, nie davon sprechen“) brachte eine in Frankreich weitverbreitete Haltung mit Blick auf den Kriegsausgang und eine mögliche Revanche zum Ausdruck. Auch der erste Reichskanzler Otto von Bismarck bemerkte, dass Frankreich zwar die Reparationen, nicht aber den Gebietsverlust verschmerzen konnte und wollte. Dass es damit dauerhaft als Bündnispartner ausfiel, war eine schwere Hypothek für das von ihm maßgeblich gestaltete europäische Mächtegleichgewicht. Aus Prestigegründen war aber an eine Rückgabe nicht zu denken und auch praktisch schied diese Option aus, denn Jahr für Jahr wuchs der deutsche Zuzug und der französischsprachige Bevölkerungsanteil wurde geringer.
Im „Reichsland Elsaß-Lothringen“ lebten allerdings auch bilinguale Elsässer und Lothringer, die nach 1871 ebenso zwischen allen Stühlen saßen wie 1919 – nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte Frankreich mit dem Versailler Friedensvertrag sein Ziel erreicht, das Land grenzte im Osten wieder an den Rhein. Deutschland verlor durch die Bestimmungen des Vertrags seine überseeischen Kolonien, ostelbische Gebiete in Westpreußen sowie Posen und Oberschlesien, Nordschleswig und das kleine Eupen-Malmedy. Der Phantomschmerz der Zwischenkriegszeit über den Verlust von Elsass-Lothringen und dessen von Schulkindern besungenes Symbol Straßburg war allerdings besonders heftig.
Die tatsächlichen Erinnerungen von ausgesiedelten Deutschen wurden zunehmend durch die revisionistische Propaganda überlagert, Straßburg und das Elsass gerieten so mehr und mehr zu einem Traumbild. Zwischen 1940 und 1944 konnte eine kleine deutsche Elite ihren Wunsch nach einer Rückkehr verwirklichen, denn mit der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht geriet auch Elsass-Lothringen in den Herrschaftsbereich des NS-Regimes. Die vor 1871 französische, bis 1919 deutsche und danach wieder französische Universität Straßburg wurde als deutsche Hochschule neugegründet und eine handverlesene Professorenschaft machte sich auf, den „deutschen Geist“ linksrheinisch zu etablieren. Das Ende ist bekannt: Im Oktober 1944 marschierten US-amerikanische Truppen in Elsass-Lothringen ein. Seit 75 Jahren gehört die Region wieder zu Frankreich.
Diese politischen Entwicklungen wurden von Menschen gestaltet, durchlebt und durchlitten, sie lassen sich daher auch als Mentalitäts- und Geistesgeschichte erzählen. Der Denkfigur Straßburg, die für Franzosen und Deutsche gleichermaßen ein Symbol ist, widmet die Zeitschrift für Ideengeschichte ein ganzes Themenheft mit dem Titel „Jenseits von Straßburg“. Unser wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Ulf Morgenstern hat darin mitgeschrieben und gemeinsam mit Prof. Ewald Grothe (Universität Wuppertal) eine Teiledition der Straßburger Erinnerungen des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber publiziert und kommentiert.
Jenseits von Straßburg
Zeitschrift für Ideengeschichte
Heft XV/2, Sommer 2021