„Überzeugungen, Wandlungen und Zuschreibungen“. Einige Einsichten in das Staatsverständnis Otto von Bismarcks
Wie ist zu erklären, dass sogar noch in den Anfangsjahren der Berliner Republik in den Reden in- wie ausländischer Politiker ein Nachhall der Politik des ersten Reichskanzlers zu vernehmen war? „Ein Grund für das anhaltende Interesse an Bismarck dürfte daran liegen, dass er eine außergewöhnliche, vielleicht einzigartige Verbindung von Staatsdenker und Staatslenker war“ (7), schreiben Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung, und Dr. Ulf Morgenstern, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung, im Vorwort des Sammelbandes Überzeugungen, Wandlungen und Zuschreibungen. Das Staatsverständnis Otto von Bismarcks. Erschienen ist dieser in der renommierten Reihe „Staatsverständnisse“, die Prof. Dr. Rüdiger Vogt seit vielen Jahren mit dem Ziel herausgibt, nicht nur (politische) Philosophen anzusprechen, sondern auch zum allgemeinen Diskurs beizutragen.
Diesem Anspruch folgt dieser thematisch breit aufgestellte Band, der mit einem Beitrag über das Staatsverständnis des jungen Otto von Bismarck beginnt und sogleich das wichtigste Charakteristikum seiner Politikauffassung erkennen lässt: Er bekannte sich zu Pragmatismus und Flexibilität, es gab „[k]ein Festklammern am Alten“ (17), schreibt Hans-Christoph Kraus (Universität Passau). Dass diese Haltung allein einem klaren Ziel dienen sollte, wird in den „Positionsbestimmungen“ im Hauptteil des Bandes deutlich. Ob mit Blick etwa auf „Bismarcks Staatsdenken in europäischen und globalen Bezügen“ (Beitrag von Ulrich Lappenküper), das Verfassungssystem (Beitrag von Martin Otto, Fernuniversität Hagen) oder die Wirtschaft (Beitrag von Michael Epkenhans, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam), stets zielte Bismarck auf „die Stärkung, dann die Sicherung der preußischen und später der preußisch-deutschen Macht“ (143), wie Ewald Frie (Universität Tübingen) in Übereinstimmung mit allen Autoren des Bandes feststellt.
Im dritten Teil wird diese flexible und dennoch sehr zielgerichtete Politik Bismarcks, der maßgeblicher Mitautor der Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867) wie der des Deutschen Reiches (1871) war, in ihren eigenen Kontext des 19. Jahrhunderts gestellt: Aufgezeigt werden die Staatsverständnisse von Napoleon III., der erst französischer Staatspräsident und dann Kaiser der Franzosen war, dem britischen Premierminister Lord Salisbury und Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, die – ebenso wie Bismarck selbst – versuchten, die sich am Horizont der Geschichte abzeichnenden demokratischen Umbrüche aufzuhalten. Im abschließenden Beitrag unternimmt Ulf Morgenstern noch eine andere Tour d’Horizon, weit hinein in das 20. Jahrhundert mit seiner Zeitenwende 1989/90. Dabei zeigt sich, dass nicht nur der eine oder andere Bundeskanzler Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ gründlich gelesen und sich vom sprichwörtlichen Mantel der Geschichte gestreift fühlte, auch François Mitterrand und Margaret Thatcher reflektierten die deutsche Wiedervereinigung mit all ihren außenpolitischen Konnotationen unter Zuhilfenahme der Bismarck’schen Vorstellungen. Erst seitdem sich Deutschland als ein Land normalisiert hat, setzt nach Beobachtung Morgensterns eine Historisierung ein – es war also ein langer Weg, bis Bismarck und sein Wirken „‚im wahrsten Sinnes des Wortes Geschichte‘“ (250) geworden sind.
Das Buch:
Ulrich Lappenküper / Ulf Morgenstern (Hrsg.)
Überzeugungen, Wandlungen und Zuschreibungen. Das Staatsverständnis Otto von Bismarcks
Baden-Baden 2019 (Staatsverständnisse, Band 130)