Wilder Student und Eiserner Kanzler – Auf den Spuren Bismarcks in Göttingen

Text: Christian Wächter.

Der spätere Reichskanzler fiel den akademischen Autoritäten Göttingens nicht gerade als ein mustergültiger Studiosus auf. Sein Benehmen führte rasch zur Bekanntschaft mit dem Karzer, dem universitätseigenen Gefängnis. Doch nicht nur ein Blick auf den eher unsteten Lebensstil zu seiner Studentenzeit lohnt sich, auch der später das gesamte Deutsche Reich umfassende Denkmalkult machte nicht vor der Stadt halt, mit der Bismarck auf besondere Weise verbunden war.

Und so steht ein Ausspruch, den Bismarck gegenüber seinen Kommilitonen verlautbart haben soll, Pate für die beiden „Bismarck-Gesichter“, die in Bezug auf Göttingen erkennbar werden: „Ich werde entweder der größte Lump oder der erste Mann Preußens!“

Am 10. Mai 1832 wurde der 17-jährige Otto von Bismarck an der Georgia Augusta als Student der Rechte und Staatswissenschaften eingeschrieben. Wie schon seine Beamten- und Diplomatenkarriere von Seiten der Eltern vorbestimmt war, so entsprach die Wahl des Studienganges sowie der Universität dem Wunsch der Mutter. Die Göttinger Universität genoss einen hervorragenden Ruf, beheimatete viele berühmte Professoren und die städtische Gesellschaft galt als besonders vornehm wie weltoffen.

Die ersten zwei Semester hauste der junge Student in der Wohnung des Hauswirtes und Bäckers Justus Friedrich Schumacher, in der Roten Straße 299 (heute Rote Straße 27). Bismarck fühlte sich in seiner neuen Umgebung dabei zunächst unwohl – er beklagte sich über die polizeistaatliche Atmosphäre, das Gefühl, auf Schritt und Tritt verfolgt und beobachtet zu werden. Diese Einschätzung wandelte sich jedoch bald und im Januar 1833 bekundete er in seinen an die Familie gerichteten Briefen, er könne sich kaum einen besseren Ort als Göttingen vorstellen.

Das Corpshaus der Studentenverbindung Corps Hannovera

Während des kurzen Aufenthaltes an der Leine war Bismarck Mitglied des Corps Hannovera. In der schlagenden Studentenverbindung pflegte er einen rauf- und trinkfreudigen Lebensstil; seinem Bruder Bernhard gegenüber brüstete er sich mit seinen zahlreichen Erfolgen bei der Mensur, wobei er einmal eine gespaltene Nasenspitze beklagen musste. Sein nicht wirklich braves Studentenleben drückte sich zum einen im abnehmenden Besuch von Lehrveranstaltungen aus; in dieser Hinsicht setzte er die eher nachlässige Lernphase seiner Gymnasialzeit fort. Zum anderen führte gerade jener rauf- und trinkfreudige Lebensstil zu einigen Strafen für Störungen der öffentlichen Ordnung – so etwa zu einem 18-tägigen Aufenthalt im Karzer.

Die Tür des alten Karzers, ausgestellt im Bismarck-Häuschen

Mitten in Göttingens Zentrum, am Wilhelmsplatz, steht das historische Aulagebäude der Georgia Augusta. Der seit 1837 genutzte Bau beinhaltet insgesamt acht Karzerräume jüngeren Datums. Sie wurden 2007 nach einem großen Spendenaufruf aufwendig restauriert und sind der Öffentlichkeit heute zugänglich – im Zuge von Stadtführungen kann der Karzer als eines der in Deutschland am besten erhaltenen Universitätsgefängnisse besichtigt werden. Die alte Zelle, in dem auch Bismarck einsaß, befand sich jedoch im ehemaligen Konzilienhaus in der Prinzenstraße und ist nicht mehr erhalten. Allerdings hat ihre Tür die Zeit überdauert und wird im so genannten Bismarckhäuschen (siehe unten) mitsamt einer auffälligen Inschrift ausgestellt: Bismarcks Name nebst dem seiner Studentenverbindung sowie der Anzahl eingesessener Tage sind hier eingeritzt. Das Graffito wird vom Kommentar „Petzer“ begleitet, der dem späteren Reichskanzler gegolten haben dürfte, jedoch ist die Echtheit dieses Zeugnisses nicht eindeutig belegt.

Zu erkennen ist das Graffito mit Bismarcks Namen, seiner Corpszugehörigkeit und der Anzahl eingesessener Tage

Stolz und ehern wirken diejenigen Gebäude aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die das Bild der Universitätsstadt auch heute noch prägen. Und irgendwie passt es zum Nimbus des späteren standfesten „Eisernen Kanzlers“, dass dessen zweite Göttinger Wohnung Teil eines Bollwerkes, nämlich einer der Türme des Stadtwalls, war. Weit war die Landschaft des Leinetals, welche man von der Wallanlage aus überblicken konnte, und bei diesem außergewöhnlichen Ausblick soll Bismarck seine Wohnlage auch ausgiebig dazu genutzt haben, im Leinekanal zu baden; so berichtete es der spätere Reichskanzler schließlich selbst. Das heute als „Bismarckhäuschen“ bekannte Bauwerk entstand ursprünglich im Zuge der Errichtung einer erweiterten Stadtmauer im 14. Jahrhundert. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert verloren die Verteidigungsanlagen an Bedeutung und wurden ab 1762/63 gegen Ende des Siebenjährigen Krieges geschleift. Die Folge war eine Umgestaltung des alten Walls zu einer Promenade und die Umfunktionierung des Turms zu einem Gartenhaus. Johann Voß, Gärtner des Göttinger „Oeconomischen Gartens“ vermietete dessen Räumlichkeiten an Studenten, so auch vom Frühjahr bis Herbst 1833 an Otto von Bismarck. Der Umzug von der Roten Straße in den Turm soll – so eine spätere Erzählung – dabei nicht ganz freiwillig zustande gekommen sein. Aufgrund der genannten Störungen der öffentlichen Ruhe sei Bismarck in die Stadtperipherie verbannt worden, um nur noch zu Studienzwecken die Innenstadt betreten zu dürfen.

Nach einigen Besitzerwechseln übernahm die Stadt zum 100. Jahrestag von Bismarcks Einzug das Häuschen, um es als Gedenkstätte zu nutzen. Als Einrichtung wählte man Mobiliar der Biedermeierzeit und schuf so den Eindruck einer bürgerlichen Wohnsituation, die es während Bismarcks Aufenthalt mit Sicherheit nicht gegeben hatte. Schließlich wurde 1985/86 das Innere des Turms neugestaltet, ohne die unglücklich gewählten Möbel und zugunsten einer einfachen Dokumentation, die heute noch begutachtet werden kann und insbesondere über die Geschichte des Häuschens, Bismarcks Studentenleben und den Denkmalkult in Göttingen informiert.

Das Bismarck-Häuschen am Stadtwall

Doch nicht nur die Umgestaltung der Studentenbleibe blieb als Zeichen des Erinnerns in Göttingen erhalten. Im Thorner Park steht ein junger Eichenbaum, an seinem Fuße eine Gedenktafel. Beide wurden an Bismarcks 80. Geburtstag am 1. April 1895 dort platziert. Die Eiche war neben der Linde die bevorzugte Baumart, um „lebende Bismarckdenkmäler“ zu errichten – nicht zuletzt, weil sie als „typisch deutsch“ galt und eines der Wappenpflanzen der Familie Bismarck-Schönhausen ist. Das geringe Alter des Baumes im Park geht auf einen Unfall zurück, den städtische Arbeiter 2004 im Rahmen von Fällarbeiten verursachten: Ein benachbarter Baum fiel auf die Bismarck-Eiche, die derart beschädigt wurde, dass sie kurz darauf entfernt und durch einen Jungbaum ersetzt werden musste. Ein Nachtrag zur Inschrift des Gedenksteins bezeugt dieses Missgeschick.

Die Bismarckeiche im Thorner Park

Mitten im Göttinger Wald, auf dem Rücken eines Hügelgrats ragt ein 31 Meter großer, aus Kalkbruch- und Sandstein erbauter Turm über den Baumwipfeln hervor. Das im Burgenstil gehaltene Bauwerk wurde ursprünglich in den 1880er Jahren als Aussichtsturm angeregt; Justizrat Hermann Eckels war als Vorstandsmitglied des Göttinger Verschönerungsvereins der entscheidende Initiator. Ab März 1892 sollte die Idee in die Tat umgesetzt werden und Bismarck als Namenspatron dem Turm einerseits die zusätzliche Bedeutung eines Denkmals, andererseits dem Projekt die nötigen Geldspenden verschaffen. So wurde der Bismarck-Thurmbau-Verein gegründet und schon im Mai willigte der Reichskanzler in die Namensgebung ein. Knapp vier Jahre, vom 28. Juni 1892 bis zum 18. Juni 1896 dauerte die Bauphase nach einem Entwurf von Heinrich Gerber, der mithilfe von 43.700 Mark Spendengeldern sowie dem gestifteten Rohbau des ausführenden Maurermeisters Conrad Rathkamp verwirklicht werden konnte. In seinem Inneren finden sich neben einem Treppenaufgang, der auf die Spitze des Rundturmes führt, eine Gedächtnishalle mit Widmungstafeln der Großspender sowie eine Bismarckbüste.

Mitsamt der ergänzten Schrifttafel

Nachdem der Kult um den „Eisernen Kanzler“ am Turm selbst bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges hinein – unter anderem mit Beleuchtungen und Kanonenschüssen an Bismarcks Geburtstagen – gepflegt wurde, verlor er seine Bedeutung als nationale Huldigungsstätte zusehends, ohne jedoch seine Popularität als Ausflugsziel einzubüßen. Bis 1952 folgten gar Plünderungen der Halle und der zunehmende Verfall der Bausubstanz, ehe sich der Göttinger Verschönerungsverein seiner Sanierung annahm und 1985 weitere Erneuerungsarbeiten durchgeführt werden konnten. In dem hierdurch erreichten Zustand kann der Turm samstags, sonntags und an Feiertagen erklommen und sein Inneres besucht werden. Er dient nach wie vor als beliebtes Ausflugsziel und Aussichtspunkt, von dem aus man einen weiten Blick über Göttingen und das Leinetal genießen kann.

Der Bismarckturm im Göttinger Wald

Auch das zweite große Bismarckdenkmal Göttingens bietet einen beeindruckenden Ausblick auf Stadt und Umgebung aus erhöhter Position: Auf dem Hainberg, am nordöstlichen Stadtrand, befindet sich ein Bismarckstein – ein quadratischer Aufbau aus Kalkgestein, der durch seitliche Treppen zu einer Aussichtsfläche bestiegen werden kann. Weder seine Form noch irgendeine Abbildung erinnern an den Reichskanzler – nur eine kleine Inschrift „Gedenkstein für Otto von Bismarck. 1903“ stellt den Bezug her.

Am 10. Dezember 1899 trug der ehemalige Bürgermeister und damalige Rektor der Göttinger Universität Johannes Merkel den Wunsch seiner Studentenschaft an den neuen Bürgermeister Georg Carlsow heran, eine Bismarcksäule zu errichten. Wie auch andere solcher Säulen im Deutschen Reich, die auf das Einheitsmodell „Götterdämmerung“ des Architekten Wilhelm Kreis zurückgehen, sollte das Monument in abstrakter, entpersonalisierter Form als eine Art Feueraltar fungieren, welcher an bestimmten Tagen im Jahr (insbesondere zur Sommersonnenwende) entflammt wurde und den Kult um den zu Verehrenden in eine quasi-religiöse Sphäre hob. Carlsow und der Vorsitzende des Göttinger Verschönerungsvereins Hermann Eckels sicherten ihre Unterstützung zu und es wurde der „Verein zur Erbauung einer Bismarck-Säule bei Göttingen“ gegründet, der sich der Durchführung des Projektes annahm. Während das Vorhaben Ausdruck eines allgemeinen Aufrufs deutscher Studenten war, dem verstorbenen Altkanzler „auf allen Höhen unserer Heimat“ derartige Säulen zu errichten, kam es im Göttinger Vorhaben zu einer speziellen Abänderung der Konzeption: Für den Bau wurde die Schaffung einer Aussichtsplattform zur Bedingung gemacht und so wich die ursprüngliche Idee einer Säule nach Kreis’schem Vorbild letztlich einem sieben Meter hohen Quaderaufbau, den auf der oberen Ebene eine große Feuerschale zierte und der im Halbrund von zwölf kleinen Säulen mit Feuerschalen an ihren Spitzen umgeben war. Nachdem die ohnehin rasch unregelmäßig stattfindenden Feuerentfachungen, Lesungen und anderen Gedenkzeremonien immer seltener wurden und ähnlich wie beim Bismarckturm nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausblieben, wurden die Säulen sowie die große Feuerschale entfernt. Im Jahr 1965 befand sich der Stein bereits in einem desaströsen Zustand, so dass eine allgemeine Diskussion über seine Zukunft entstand. Von einem Abriss, dem Ersatz durch ein Denkmal für die Opfer des Dritten Reiches bis zu einer kompletten Sanierung wurden zahlreiche Vorschläge eingebracht. Letztendlich wurde das im Volksmund aufgrund seiner Form liebevoll „Elefantenklo“ genannte Bauwerk notdürftig instand gesetzt, ehe es zwischen den Jahren 2002 bis 2005 für etwa 15.000 Euro restauriert werden konnte. Seine Wiedereröffnung erfolgte am Tag des offenen Denkmals, am 11. September 2005 – ohne Feuerschalen und -säulen. Heutzutage wird der Bismarckstein weiterhin als populärer Aussichtspunkt angesteuert, von dem aus sich ein weiter Blick hinunter auf Göttingen und seine Umgebung vor allem dann ergibt, wenn in der kalten Jahreszeit die umliegenden Laubbäume nicht die Sicht einschränken.

Der Bismarckstein („Elefantenklo“)


Die einzige Inschrift


Straßenschild bei der Schillerwiese


Die Gaststätte „Fürst Bismarck“ in Göttingens


Der Blick gen Leinetal

Insgesamt muss festgehalten werden, dass sich in Göttingen nach wie vor eindrucksvolle Zeugnisse darbieten, die sowohl einen der spannendsten Lebensabschnitte des jungen Bismarck als auch den reichsweit entfachten Denkmalkult um den „Eisernen Kanzler“ dokumentieren. Bei einem Ausflug in die schöne Leine-Stadt und ihre Umgebung, kann der Besucher gleich mehrere historisch authentische wie bemerkenswerte Stätten entdecken: Das Bismarck-Häuschen am Stadtwall mitsamt seiner informativen Ausstellung sowie die beiden auch im reichsweiten Vergleich durch ihre Monumentalität bestechenden Denkmäler tun sich dabei in besonderem Maße hervor.
Kein Zweifel, Bismarcks Andenken lebt in Göttingen fort und dies nicht nur an den vorgestellten historischen Stätten – auch beim Schlendern entlang der Bismarckstraße oder beim Einkehren in die Gaststätte „Fürst Bismarck“ folgt man den Spuren des alten Reichskanzlers.

Geschrieben von Christian Wächter am 22. März 2012

Übrigens: Alle genannten Bismarck-Orte können Sie auf der Seite der Bismarckierung finden!

Linkliste:

Die Internetseiten des städtischen Museums Göttingen; im Archiv des Museums lassen sich zahlreiche Dokumente über Bismarcks Zeit in Göttingen sowie zur Baugeschichte der Denkmäler finden.

Die Webpräsenz des Göttinger Verschönerungsvereins e.V.

Zur Geschichte des Göttinger Karzers und weiteren Informationen zu Otto von Bismarck an der Georg Augusta siehe vor allem die Internetseiten der Universität Göttingen.

Webcam vor dem Bismarck-Häuschen mit 360-Grad-Aufnahmen von der Umgebung.