Die kleine vergoldete Siegesgöttin Nike ist längst verloren, nur die Kugel, auf der sie thronte, wird noch von dem ausgestreckten Arm gehalten. Der Speer in der anderen Hand, Kopfbedeckung und Gewand verraten aber, wen die Statuette zeigt: Pallas Athene. Die Tochter des Zeus, so die griechische Mythologie, steht hier unverkennbar für Krieg und Sieg.
Die Statuette gehört zu der fast unüberschaubaren Anzahl an Geschenken, die Otto von Bismarck zu seinem 80. Geburtstag am 1. April 1895 erhielt. Ihr Absender war – wie auf der Rückseite des Sockels zu lesen ist – die Allgemeine deutsche Kunstgenossenschaft. Diese Berufsvertretung hatte sich mit großdeutschem Anspruch, also unter Einbeziehung der österreichischen Künstler, 1856 in Bingen am Rhein gegründet. Ihr Ziel war, die Interessen der bildenden Künstler gegenüber Politik und Verwaltung zu vertreten. Es gründeten sich zahlreiche Ortsgruppen, wie ein Eintrag im Stadtlexikon Darmstadt informiert. Den Vorstand stellten abwechselnd die Berliner und die Münchner Ortsgruppe – die dann 1868 eigens gegründete Münchener Künstlergenossenschaft existiert noch heute.
In München lag auch die künstlerische Federführung bei der Ausgestaltung des Geschenks für Bismarck. Übernommen wurde sie von zwei namhaften Bildhauern: Heinrich Waderé (1865 – 1950) entwarf die elegante Figur; von ihm stammen beispielsweise auch die Attikafiguren über dem Portikus des Prinzregententheaters sowie das Richard-Wagner-Denkmal in München-Bogenhausen. Gegossen wurde die Statuette von Ferdinand von Miller (1842 – 1929), der später, von 1900 bis 1919, die Akademie der Bildenden Künste in München leitete.
Diese kleine Krieg-und-Sieg-Statue misst mit Sockel 87 Zentimeter Höhe und besteht aus zwei Metallen: aus Kupfer und Zinn, legiert zu Bronze. Die Bronze wurde mit grüner Patina so veredelt, dass der Faltenwurf des Gewandes den Eindruck von Stoff entstehen lässt. Das Material des Sockels ist in dem Band „Das Bismarck-Museum in Wort und Bild“ als Levante Verde identifiziert. Dieser Naturstein wird im italienischen Ligurien abgebaut, erdgeschichtlich hat er durch Druck und Temperatur zu seiner Form gefunden.
Quellen:
Akademie der bildenden Künste München: Personallisten
Athena, in: Britannica, 3. Juli 2023
A. de Grousilliers unter Mitwirkung von W. L. Schreiber: Das Bismarck-Museum in Wort und Bild. Ein Denkmal deutscher Dankbarkeit, Berlin 1899
Friedrich Wilhelm Hackländer: Die erste Versammlung deutscher bildender Künstler, in: ders. Erlebtes. Zweiter Band, Stuttgart 1856
Friedrich Wilhelm Knieß: Allgemeine Deutsche Kunstgenossenschaft (Ortsverein), in: Stadtlexikon Darmstadt
Münchner Künstlergenossenschaft
Heinrich Waderé, in: Nordost-Kultur München, als Quelle wird angegeben: Yvette Deseyve: Heinrich Waderé (1865–1950): Ein Münchner Bildhauer der Prinzregentenzeit (Wiener Schriften zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege), München 2010
Die Statuette hat heute ihren Platz im Bismarck-Museum Friedrichsruh und ist als Oktober-Kalenderblatt in unserem Wandkalender „Durchlauchtigster Fürst“ zu sehen. Zuvor erschienen: Vom Souvenir zum Politikum: Bismarcks Olivenzweig