„Volkes Stimme!“ – Die Sonderausstellung im Bismarck-Museum

Die Sonderausstellung zeigt in drei Sektionen die Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland.

Am Sonntag eröffnen wir im Bismarck-Museum Friedrichsruh die neue Sonderausstellung über „Parlamentarismus und demokratische Kultur im Deutschen Kaiserreich“. Vorangegangen sind Überlegungen und Diskussionen über die Zeitspanne, die abgebildet wird, sowie zu den thematischen Gewichtungen. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass es heute als selbstverständlich gilt, dass wir Deutschen auf Bundes-, Landes- und auf kommunaler Ebene in freien Wahlen unsere politischen Repräsentanten bestimmen können. Doch das war nicht immer so: 200 Jahre lang haben Reformer und Revolutionäre für die repräsentative parlamentarische Demokratie gekämpft und sie weiterentwickelt.

Wir zeigen, dass unser heutiger Parlamentarismus seinen Anfang in den mittelalterlichen Ständeparlamenten der deutschen Staaten genommen hat. Sie repräsentierten nur einen kleinen Teil der Bevölkerung und waren lediglich mit beschränkten Rechten ausgestattet, entwickelten sich aber schließlich zu zeitgemäßen Volksvertretungen. In diesem Entwicklungsprozess nimmt das Deutsche Kaiserreich mit seinem Nationalparlament, dem Reichstag, eine zentrale Stellung ein. Anders als zuvor die Frankfurter Nationalversammlung und das Erfurter Unionsparlament war er auf nationaler Ebene das erste Sprachrohr für „Volkes Stimme“, das von den Regierungen der Bundesstaaten sowie der Bevölkerung einhellig anerkannt wurde.

Diese zentrale Stellung des Reichstags ist auf den ersten Blick vielleicht etwas überraschend. Noch immer wird in der Geschichtswissenschaft darüber diskutiert, ob das Deutsche Kaiserreich ein politisch und gesellschaftlich modernes oder doch eher ein rückständiges Staatswesen war, das hinter anderen Nationen zurückblieb. Manche Historikerinnen und Historiker bescheinigen ihm, in der Entwicklung seines politischen Systems und seiner gesellschaftlichen Zustände durchaus mit westeuropäischen Staaten oder den USA mitgehalten zu haben. Andere betonen hingegen die vormodernen Elemente seiner politischen und sozialen Strukturen. Sie verweisen auf die überkommenen obrigkeitsstaatlichen Elemente. Anerkannt aber werden fortschrittliche Entwicklungen in Politik und Gesellschaft.

Wir verknüpfen in unserer Ausstellung die vielschichtige Frage nach der politisch-sozialen Modernität bzw. Rückständigkeit des Kaiserreichs mit der Geschichte unserer parlamentarischen Demokratie. Der Bruch der Ampelkoalition und die anschließenden Neuwahlen zum Deutschen Bundestag bieten zudem einen aktuellen Anlass, an die parlamentarischen Traditionen Deutschlands und die basisdemokratischen Bewegungen im 19. Jahrhundert zu erinnern, sie wissenschaftlich zu betrachten und in den historischen Kontext einzubetten. Wir leisten damit als Stiftung einen Beitrag zur historisch-politischen Bildung in einer Zeit, in der über mögliche Gefährdungen der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland öffentlich diskutiert wird.

Ständegesellschaft und Revolutionen

In unserer Sonderausstellung nähern wir uns der eben angerissenen Thematik in drei großen Kapiteln. Das erste Kapitel zeigt auf, dass sich bereits in vormodernen Zeiten Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Gruppen an staatlicher Herrschaft beteiligten. Zu nennen sind insbesondere der Adel, der Klerus und die Patrizier als einflussreiche Akteure der Ständegesellschaft. Die Glorious Revolution in England, die Amerikanische sowie die Französische Revolution läuteten schließlich die Entwicklung zu einer modernen, demokratischen Staatlichkeit ein. Sie zeichnet sich seitdem durch drei Elemente aus: eine Verfassung, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Verfahren in der politischen Willensbildung.

In der Folgezeit forderten unterrepräsentierte Bevölkerungsschichten wie das Bürgertum und die Arbeiterschaft immer nachdrücklicher mehr Mitsprache bei den Angelegenheiten des Staates ein. Häufig verbanden sie ihre Forderungen mit dem Wunsch nach nationaler Einheit. Die Revolutionen von 1830 und 1848 verstärkten den Druck auf die herrschenden Eliten. Im März 1848 gaben sie schließlich nach – es kam zur ersten gesamtdeutschen Wahl eines Nationalparlaments, der Frankfurter Nationalversammlung. Die Abgeordneten arbeiteten zwar eine wegweisende Verfassung aus, konnten jedoch den im Werden begriffenen Nationalstaat nicht vollenden. Auch der heute weitgehend vergessene Versuch Preußens, mit der Deutschen Union samt dem Erfurter Unionsparlament eine Art „Nationalstaat light“ zu begründen, scheiterte. In der Präsentation wird diese Entwicklung vom Stände- zum modernen Verfassungsstaat aufgezeigt und vor allem ein Blick auf die Nationalversammlung sowie das Unionsparlament geworfen.

Der Reichstag im Deutschen Kaiserreich

Das anschließende Kapitel bildet den Hauptteil der Sonderausstellung. Unter maßgeblicher Beteiligung Otto von Bismarcks wurde zwischen 1867 und 1871 der deutsche Nationalstaat gegründet, den viele Deutsche ersehnt hatten. Das neue Reich war ein Kompromiss zwischen liberaler Nationalbewegung und den Herrschaftsansprüchen der Fürsten. Der Nationalstaat war zwar durchgesetzt, aber die Volkssouveränität nur unzureichend verwirklicht. Das monarchische Prinzip wurde sogar gefestigt.

Wir betrachten zunächst die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Deutschen Reichs und nehmen dann den Reichstag als wichtigen Akteur der kaiserzeitlichen Politik in den Blick. Im engen Zusammenhang damit stehen die Entwicklung des Wahlrechts sowie der Wahlpraxis, veranschaulicht an unterschiedlichen Wahlrechtsnormen in den Bundesstaaten. Außerdem zeigen wir die Grundzüge basisdemokratischer Bewegungen, dazu zählen politische Vereine und Parteien, Verbände, Gewerkschaften sowie die Frauen- und Jugendbewegung. Berücksichtigt wird auch die öffentliche Meinung im Zeitalter der Massengesellschaft, die immer größere Bedeutung gewinnt. Den Übergang zum dritten Kapitel bildet am Ende die Skizzierung der inneren Entwicklung im Ersten Weltkrieg. Sie reicht vom brüchigen „Burgfrieden“ an der Heimatfront über die längst fällige Parlamentarisierung des Kaiserreichs, die keine Wirkung mehr entfaltet, bis zum Novemberumsturz 1918/19.

Der Parlamentarismus der Gegenwart

Der dritte und letzte Ausstellungsabschnitt vermittelt im Rahmen eines Ausblicks die weitere Evolution des Parlamentarismus in Deutschland. Wir beleuchten schlaglichtartig die Entwicklung und die Gefährdung der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik und deren rasche und rücksichtslose Beseitigung im nationalsozialistischen Deutschland. Wir folgen dem Weg dann weiter über den Scheinparlamentarismus in der SED-Diktatur und den Neustart und die Festigung der parlamentarischen Demokratie in Westdeutschland. Den Schlusspunkt bildet die Weiterentwicklung zum gesamtdeutschen Parlamentarismus in der Gegenwart.

Die Ausstellung ist bis zum 12. April 2026 zu sehen. Das Bismarck-Museum ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 13 und 14 bis 16 Uhr geöffnet, am Eröffnungstag bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Weitere Informationen und Termine finden Sie auch im Ausstellungsflyer.

Dr. Maik Ohnezeit hat die Ausstellung kuratiert. Finanziell gefördert wird sie von der bundeseigenen Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte.


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