Gefühlsausbrüche auf Papier – Stiftung hat Briefe Johanna von Bismarcks erworben
„Heute umarme ich mein geliebtes Marien Kind speziell innig u herzlich u sende durch Ihre weichen Ärmchen die anderen Umarmungen rundumher […]. Sie sind ja Alle mein Herzens Geliebtes u so viel, wie ich, denkt kein Mensch an Sie.“ So schreibt Johanna von Bismarck überaus reizend in einem Brief aus dem Jahr 1859 an die 19-jährige Marie Becker.
Ihre Bekanntschaft reichte in die Zeit der frühen 1850er-Jahre zurück, als die Bismarcks von Schönhausen nach Frankfurt am Main zogen. Otto von Bismarck bekleidete dort seit 1851 den Posten als preußischer Gesandter beim Deutschen Bundestag. In der Mainmetropole kam die standesbewusste Johanna, die aus der uradligen Familie von Puttkamer stammte, erstmals in engeren Kontakt mit dem bürgerlichen Milieu. Dazu zählte auch die Familie Becker. Mit dem Maler Jakob Becker, der die Bismarcks zu jener Zeit porträtierte, und dessen Frau Wally, mit der Johanna die musikalische Begeisterung teilte, verband das Ehepaar zeitlebens eine enge Freundschaft. Diese erstreckte sich auch auf deren Tochter Marie (1840 – 1912).

Jakob Becker, der Vater Marie Meisters, porträtierte 1855 in Frankfurt/Main das Ehepaar Bismarck (Reproduktionen, Bismarck-Museum Friedrichsruh)
Die an sie gerichteten Briefe verraten einiges über deren Biografie: Mit zwanzig Jahren verlobte sich Marie mit Wilhelm Meister, einem der Gründer der Teerfarbenfabrik Meister, Lucius und Co., aus der später die Hoechst AG hervorging, 1861 heirateten sie. Es folgten ein kurzer Umzug nach London und die Rückkehr nach Frankfurt, währenddessen die Korrespondenz nicht abriss. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor, die dieselben Vornamen erhielten wie die Söhne der Bismarcks: Herbert und Wilhelm.

Dr. Ulf Morgenstern, Geschäftsführer der Stiftung, und Dr. Pauline Puppel, Vorsitzende des Fördervereins und Archivarin am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, mit den vier Briefbänden. Deren Erwerb wurde finanziell durch den Förderverein ermöglicht.
Die Otto-von-Bismarck-Stiftung hat unlängst mit finanzieller Unterstützung ihres Fördervereins die Briefe erworben, die Johanna von Bismarck an Marie Meister schrieb. Die Empfängerin ließ die beinahe 500 Schriftstücke aus den Jahren 1859 bis 1894 in Leder binden – der Austausch endete mit Johannas Tod in jenem Jahr. Die vier grünen Bände sind mit goldenen Ornamenten im Jugendstil verziert und jeweils mit der Überschrift „Briefe der Fürstin Bismarck“ sowie einer Datierung versehen. Alle Papiere sind in einem guten Zustand, wobei einzelne Briefköpfe entfernt sind. Unklar ist, ob die Sammlung vollständig ist. Die sorgfältige Aufbewahrung legt dies nahe.
Johanna von Bismarck wurde 1824 auf einem Gut in Pommern geboren, 1847 heiratete sie den neun Jahre älteren Otto. Damit tauschte sie das in festen Bahnen verlaufende Gutsleben gegen häufige Ortswechsel, die sich durch die diplomatische Karriere ihres Mannes ergaben. Johanna von Bismarck blieb lange Zeit von der Forschung vernachlässigt. Frühere Darstellungen entwarfen das einseitige Porträt einer liebenden Ehefrau und fürsorglichen Mutter. Dr. Andrea Hopp zeichnete in ihrem 2022 erschienenen Band „Im Schatten des Staatsmanns“ auf breiter Quellenbasis dagegen ein differenziertes Bild: Die Politikergattin wird als exaltierte Familienmanagerin mit ganz eigenen Vorstellungen sichtbar. Dabei kultivierte Johanna von Bismarck die Familie als Rückzugsort für sich und ihren Ehemann Otto und versuchte, dieses „Innere“ vom „Äußeren“, der Politik, abzugrenzen. Deutlich wird, wie ausgeprägt Johanna Emotionen als Werkzeug in der Ausgestaltung familiärer und sozialer Beziehungen einsetzte.

Der Brief links ist undatiert und wahrscheinlich zwischen April und Juni 1879 entstanden. Die Seiten in der Mitte und rechts sind Teile eines Briefs, den Johanna von Bismarck am 25. Juli 1876 während eines Kuraufenthalts in Kissingen schrieb. Zu sehen ist die Ruine der Burg Bodenlaube, jeweils fotografiert und gezeichnet.
Die Briefe an Marie Meister erlauben nun einen weiteren Blick auf das emotionale Innenleben und die komplexe Persönlichkeit Johanna von Bismarcks. Eine erste Durchsicht offenbart, dass sie viele private Details preisgab. So beklagte sie sich wiederholt über die Mobilität, die mit den diplomatischen und politischen Aufgaben ihres Mannes einherging. Auch wer in ihrer Gunst stand und wer nicht, teilte sie in aller Offenheit mit – ein Beispiel:
„Metzlerin grüßen Sie nur nicht – ich mag sie doch garnicht gern – ihr liegt an mir eben so wenig wozu – die Heuchelei!“
Politische Lageberichte hingegen waren eine Seltenheit. Der Sieg über Dänemark 1864 wurde beispielsweise nur nebenbei erwähnt:
„Bismarck ist mit Keudell im Gefolge Sr. Maj. nach Holstein hinüber, um sich an Ort u Stelle des Sieges unserer prächtigen Armee zu freuen, über den Berlin ganz außer sich war vor freudigster Begeisterung.“
Die Politik schien eher ein Ärgernis zu sein, das ihren Mann Otto viel Zeit kostete und ihn aus der inneren Sphäre der Familie herausriss, wie sie mit leichtem Spott formulierte:
„aber Mühe u Arbeit schlägt ihm oft über dem kahlen Köpfchen zusammen, so dass er manchen Tag keine Minute frei hat“
Die ausgedehnte Abwesenheit ihres Ehemannes gab ihr Anlass zur Kritik, da diese ihr Bestreben, dem „Inneren“ Vorrang vor dem „Äußeren“ zu geben, durchkreuzten.
Bismarck reitet Hetzjagden in Polen mit dem russischen Kaiser 5 Stunden lang, worüber ich ausser mir bin – u Streit wahrscheinlich mit mir. Es ist eine Vernunft von ihm, die gar keinen Namen hat – man könnte ihn eher für 4 als 44 jährig erklären – […] Ich bin wirklich ganz starr vor Schreck gewesen […] u bedaure nur, ihn nicht sicher auffinden zu können, sonst hätte ich die größte Lust, ihm eine furchtbare Mahn- u Ermahn-Epistel entgegen zu schleudern über seine Familien-Vater-Pflichten u Undankbarkeit gegen Gott – wenn man so drauf los wirthschaftet – Wie kann man bloß! Nein, es ist zu schlimm!“

Marie Meister mit ihren Kindern, undatierte Fotografie
Die Briefe geben neben diesen privaten Details Aufschluss über die Beziehung der beiden Frauen, wobei sich im Laufe der Jahre ein Wandel im Umgang mit Marie Meister beobachten lässt: Zwar blieb das Verhältnis von einer standes- und altersbedingten Hierarchie geprägt, doch mit der Verlobung der jüngeren Korrespondenzpartnerin änderte sich der Ton – dieser wird weniger mütterlich und zunehmend freundschaftlich. Johanna von Bismarck gab sich gar als überaus zärtlicher und interessierter Mensch, was sich in Ton und Frequenz der Briefe widerspiegelt. Gleichwohl spannte sie Marie Meister für ihre Zwecke ein, indem sie etwa Aufträge für Botengänge verteilte oder Zeit einforderte.
Die Korrespondenz ermöglicht einen unmittelbaren Einblick in die Welt von Johanna von Bismarck aus der Perspektive einer standesbewussten Adligen. Unterfüttert wird dabei noch einmal die Darstellung von Dr. Andrea Hopp: Obwohl Johanna von Bismarck fraglos ihre zugewandten und liebevollen Seiten hatte, wies ihr Charakter deutliche Ambivalenzen auf. Am deutlichsten wird dies bei ihrem Betreiben, ihren Mann für das „Innere“ des Familienlebens möglichst weitgehend zu vereinnahmen und dieses von seinem politischen Alltagsgeschäft abzugrenzen.
Es ist vorgesehen, die handschriftlichen Briefe der vier Bände zu transkribieren und mit den Antwortschreiben von Marie Meister zu ergänzen. Diese befinden sich bereits seit Längerem im Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung.
Literatur:
Andrea Hopp
Im Schatten des Staatsmanns
Johanna, Marie und Marguerite von Bismarck als adelige Akteurinnen (1824–1945)
Paderborn 2022