Deutsches Kaiserreich

„Volkes Stimme!“ – Sektion II

Der Norddeutsche Bund wurde im Jahr 1867 gegründet, das Deutsche Reich 1871. Damit war der Prozess der Nationalstaatsgründung abgeschlossen. Sie ermöglichte die Umsetzung wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Reformen. Unzureichend verwirklicht blieb jedoch die Volkssouveränität.

Preußens Vorrang als größter Bundesstaat blieb unangetastet, ebenso die starke Stellung des Monarchen und seiner Regierung gegenüber dem Parlament und den Parteien. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht auf Reichsebene bot jedoch breiten Volksschichten politische Teilhabe. Dies galt auch für die Bundesstaaten, obwohl dort häufig ein ungleiches Wahlrecht festgeschrieben war. Es gab ein vielfältiges Parteiensystem und die Politisierung in der Bevölkerung stieg beständig, nicht zuletzt als eine Folge der häufigen Wahlkämpfe.

Ein breites Publikum konnte aus einem großen Angebot an Druckerzeugnissen auswählen und sich informieren. Interessenverbände nahmen Einfluss auf Parteien, Regierung und öffentliche Meinung. Gewerkschaften setzten sich für Arbeitnehmerinteressen ein. Die Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegung engagierte sich für soziale Gerechtigkeit, mehr politische Mitwirkung, die Gleichstellung der Geschlechter und die Überwindung überkommener Werte.

Die nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 beschworene Einheitsfront von Regierung, Militär und Volk bekam mit zunehmender Kriegsdauer Risse. Gesellschaftliche und politische Spannungen verschärften sich. Innenpolitische Reformen konnten das Ende der Monarchie im Zuge von Kriegsniederlage und Novemberumsturz 1918 nicht mehr aufhalten.

Reichsverfassung

Das Deutsche Reich wurde als Bund der deutschen Fürsten und Senate der Hansestädte gegründet. Es war eine konstitutionelle Monarchie und damit keine Demokratie, aber dennoch ein föderaler Rechts- und Verfassungsstaat. Die „Verfassung des Deutschen Reiches“ von 1871 war vor allem ein Statut, mit dem der Staat organisiert wurde. Sie enthielt nur wenige Grundrechte. Diese waren in den Landesverfassungen festgelegt und konnten auch über die einfache Reichsgesetzgebung garantiert werden.

Höchstes Verfassungsorgan war der Bundesrat als Vertretung der Bundesstaaten. Das „Präsidium des Bundes“ besaß weitreichende Kompetenzen und wurde dem König von Preußen übertragen. Damit wurde Preußens Vormachtstellung garantiert, wenngleich eine gewisse Eigenständigkeit der Bundesstaaten gewahrt blieb. Der König von Preußen erhielt den Titel „Deutscher Kaiser“. In seinem Namen führte der Reichskanzler die Regierungsgeschäfte. Der Reichstag als Volksvertretung wirkte an der Gesetzgebung mit und entschied über den Staatshaushalt.

Die Reichsverfassung war ein Kompromiss aus bundesstaatlichen und zentralistischen sowie aus monarchischen, liberalen und demokratischen Elementen. Durch die verfassungsändernden Gesetze vom 28. Oktober 1918 wurde die konstitutionelle in eine parlamentarische Monarchie umgewandelt. Diese hatte nur wenige Tage Bestand.

Reichstag

Als Volksvertretung war der Reichstag ein demokratisches Element der Reichsverfassung. Die Arbeit der Abgeordneten förderte die nationale Einheit. Sie brachten Gesetzesentwürfe ein, verabschiedeten gemeinsam mit dem Bundesrat die Reichsgesetze und bewilligten den Staatshaushalt. Der Reichstag bildete zudem ein öffentliches Forum für politische Diskussionen. Er konnte den Reichskanzler jedoch nicht abwählen und besaß nur einen beschränkten Einfluss auf das Militär und die Außenpolitik.

Eine gewisse Kontrolle über die Reichsleitung übte die Volksvertretung aber durch Eingaben und Anfragen aus. Außerdem legten Reichstag und Bundesrat die Präsenzstärke von Heer und Marine in Friedenszeiten sowie deren Finanzbedarf fest. Seit 1912 besaß der Reichstag das Recht, der Regierung die Missbilligung auszusprechen.

Die zunehmend komplexer werdende Gesellschaft machte eine zunehmende gesetzliche Regulierung notwendig. Der Reichstag wurde deshalb zu einem modernen Arbeitsparlament. Er gewann an Einfluss gegenüber Reichsleitung sowie Bundesrat und konnte bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen Regierungsvorlagen zu Fall bringen. Eine deutliche Erweiterung seiner Rechte scheiterte auch an der Uneinigkeit der Parteien.

Landesparlamente

Die Verfassungen der Bundesstaaten entwickelten sich unterschiedlich. Dies galt auch für das jeweilige Wahlrecht. In den Großherzogtümern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz existierte kein allgemeines Wahlrecht, während in einer Reihe anderer Bundesstaaten bei Landtags- und Gemeindewahlen ein allgemeines, ungleiches und indirektes Wahlrecht galt. Nach 1900 führten einige Bundesstaaten ein Pluralwahlrecht ein. Es gestand Wählern, die bestimmte Kriterien hinsichtlich Alter, Grundbesitz oder Steueraufkommen erfüllten, zusätzliche Stimmen zu.

In Süddeutschland herrschten liberalere Tendenzen vor. Dort galt zumeist ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, wenn auch mit einigen landesspezifischen Besonderheiten. Ebenso wie auf Reichsebene wurde es den Frauen aber auch auf Länderebene vorenthalten. Es gab vereinzelte Vorstöße, den Bundesstaaten durch eine Änderung der Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht für ihre Volksvertretungen vorzuschreiben. Der Bundesrat wies dies als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesstaaten zurück.

Parteien

Im Kaiserreich existierten keine Volksparteien mit einer breiten und gemischten Wählerbasis. Vielmehr waren die Parteien an ein bestimmtes konfessionelles oder gesellschaftliches Milieu angebunden und vertraten somit die Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen. Vor allem die bürgerlichen Parteien waren nur wenig organisiert.

Die liberalen Parteien traten für die Belange des protestantischen Bürgertums ein. Die Konservativen hingegen kümmerten sich um die Anliegen der grundbesitzenden Schichten und des Mittelstands. Das Zentrum kämpfte für die Rechte der katholischen Minderheit und der Kirche. Die Sozialdemokratie nahm vor allem die Interessen der Industrie- und Landarbeiterschaft wahr. Nach 1900 gelang es ihr, die parteipolitische Isolation zu überwinden und sich wie das Zentrum zur Massenpartei zu entwickeln. Die kleinen Parteien der Antisemiten, der nationalen Minderheiten und der Welfenanhänger blieben weitgehend ohne parlamentarischen Einfluss.

Weltanschauliche Unterschiede und Interessengegensätze zwischen den Parteien, vor allem aber deren fehlende Regierungsbeteiligung führten dazu, dass sie kein Gefühl der vollen Verantwortung für den Staat entwickelten.

Wahlen

Zwischen 1871 und 1912 fanden dreizehn Reichstagswahlen statt. Die 397 Abgeordneten des Reichstags wurden in gleichen, allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen für drei, seit 1888 für fünf Jahre bestimmt. Wurde ein Mandat frei, gab es im betreffenden Wahlbezirk eine Nachwahl. Das aktive und passive Wahlrecht besaßen nur Männer ab 25 Jahren. Bei Soldaten ruhte das aktive Wahlrecht, um eine „Politisierung“ der Streitkräfte zu vermeiden. Gründe für einen Ausschluss von der Wahl waren Unmündigkeit, der Bezug von Armenunterstützung sowie der Entzug der bürgerlichen und politischen Ehrenrechte. Wählen durfte nur, wer zuvor in die Wählerlisten eingetragen worden war.

Aufgrund dieser Bestimmungen war die Zahl der Wähler erheblich eingeschränkt. Dennoch förderte das demokratische Wahlrecht die Politisierung der Bevölkerung, und die Wahlbeteiligung stieg von rund 50 Prozent (1871) auf fast 85 Prozent (1912) an. Im Laufe der Zeit verlagerten sich innerhalb des Parteienspektrums die Gewichte: Während die zunächst starken liberalen Parteien sowie die Konservativen dauerhaft an Wählerstimmen einbüßten, stieg die Anzahl der Mandate sozialdemokratischer Abgeordneter beständig an. Die Zentrumspartei hingegen konnte ihren Stimmenanteil halten und erwies sich damit als stabiler parlamentarischer Faktor.

Presse

Im Jahr 1874 wurde das Reichspressegesetz erlassen, seitdem herrschte Pressefreiheit. Eine Zensur war untersagt, allerdings mussten Pflichtexemplare der Zeitungen und Zeitschriften bei den Behörden vorgelegt werden. Sahen diese einen Verdacht auf Gesetzesverstöße, drohte die Beschlagnahmung der Auflage und die Redakteure mussten mit Anzeigen und Gerichtsprozessen rechnen.

Es wurde eine Vielzahl von Tageszeitungen – teilweise mit drei täglichen Ausgaben –, Zeitschriften und Broschüren gedruckt. Sie deckten das gesamte politische Spektrum ab. Auch wurden im Deutschen Reich weltweit die meisten Bücher produziert. Technische Neuerungen ermöglichten es, immer größere Auflagen kostengünstig herzustellen.

Druckschriften aller Art erreichten nun nicht mehr nur ein gebildetes, sondern ein breites Publikum. Die angebotenen Informationen ermöglichten es den Lesern, sich an politischen Debatten zu beteiligen. Die öffentliche Meinung gewann an Gewicht und damit einen immer stärkeren Einfluss auf die Parteien, Parlamente und Regierungen im Reich und in den Bundesstaaten.

Arbeiterbewegung

Mit der Industrialisierung entstand eine neue soziale Schicht: die Arbeiterklasse. Sie setzte sich aus gelernten und ungelernten Arbeiterinnen und Arbeitern zusammen, die vor allem aus den ländlichen und städtischen Unterschichten stammten. Seit den 1870er-Jahren bildete die Arbeiterschaft ein eigenes Sozialmilieu mit eigenen Wohnvierteln sowie einem sozialen Netz aus Vereinen und Kneipen aus.

In den engen Wohnungen und am Arbeitsplatz herrschten lange völlig unzureichende hygienische Zustände. Zunächst waren die Löhne niedrig und die körperlich anstrengenden Tätigkeiten oftmals gefährlich. In den Fabriken fehlten häufig Sicherheitsbestimmungen und Schutzvorrichtungen. Bei fehlender Arbeit, Widerspruch oder Streik drohte die sofortige Entlassung.

Die Unzufriedenheit mit den schlechten Lebensverhältnissen zeigte sich in einem hohen Organisationsgrad der Arbeiter in Vereinen, Parteien und den sozialistischen, christlichen sowie liberal orientierten Gewerkschaften. Diese setzten sich für die Arbeitnehmerinteressen ein. Zentrale Forderungen der Arbeiter waren unter anderem: Herabsetzung der Arbeitszeiten, Erhöhung der Löhne sowie Absicherung bei Unfall, Krankheit und Alter. Streiks sollten Lohnerhöhungen oder Tarifverträge erzwingen. Trotz aller weiterbestehenden Probleme stieg der Lebensstandard der Mehrheit der Arbeiter nach 1900. Die Gründe waren steigende Reallöhne sowie verbesserte staatliche und betriebliche Sozialleistungen.

Interessenverbände

Zahlreiche Interessenverbände vertraten verschiedene Gesellschaftsgruppen und nahmen auf Parteien, Reichsleitung und öffentliche Meinung Einfluss. So setzten sich Unternehmens- und Agrarverbände für die Anliegen von Wirtschaftsunternehmen und Landwirten gegenüber den Arbeitnehmerorganisationen und dem Staat ein. Am bedeutendsten waren der Centralverband deutscher Industrieller (1876), der Bund der Landwirte (1893) und der Bund der Industriellen (1895).

Um 1890 entstanden neue politische Bewegungen mit nationalistischer, imperialistischer und völkisch-antisemitischer Ausrichtung. Zu den wichtigsten zählten die Deutsche Kolonialgesellschaft (1887), der Alldeutsche Verband (1891) und der Deutsche Flottenverein (1898). Diese neuartigen „nationalen Verbände“ waren gut organisiert. Sie nutzten moderne Werbemittel, um auf die Bevölkerung einzuwirken. Die Interessenverbände förderten die Politisierung der Gesellschaft im Kaiserreich, wobei sie bestehende gesellschaftliche Konflikte noch verschärften.

Frauenbewegung

Bessere Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sowie die Gewährung des Frauenwahlrechts lauteten die Hauptforderungen des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. Diese Interessenvertretung der bürgerlichen Frauenbewegung wurde 1865 in Leipzig gegründet und in Ortsvereinen organisiert. Mit weiteren zahlreichen Organisationen und Akteurinnen entwickelte sich die Frauenbewegung im Kaiserreich zu einer breiten Bewegung. 1869 etablierte sich der Verband deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine (Lette-Verband). 1894 gründete sich schließlich der Bund deutscher Frauenvereine als Dachverband der bürgerlichen Frauenbewegung.

Die proletarische Frauenbewegung vertrat die Interessen der Fabrik- und Lohnarbeiterinnen und stritt für die volle Gleichstellung und das Wahlrecht der Frauen. Außerdem forderte sie verbesserte Schutzmaßnahmen und eine höhere Entlohnung für Arbeiterinnen.

Mit der 1902 in Hamburg erfolgten Gründung des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht organisierten sich Befürworterinnen des Frauenwahlrechts neu. Weitere Vereine folgten nach. Ein erster politischer Erfolg stellte die Einführung des Reichsvereinsgesetzes im Jahr 1908 dar, mit dem die politische Sonderstellung der Frau in den einzelnen Bundesstaaten in einer Hinsicht beseitigt wurde: Von nun an durften sich Frauen auch in politischen Vereinen (Parteien) engagieren. Das war zwar ein großer Fortschritt, aber das Wahlrecht blieb ihnen weiterhin versagt.

Jugendbewegung

Um die Jahrhundertwende bildete sich eine weitere Reformbewegung heraus. Sie wurde vor allem von Jugendlichen aus dem Bürgertum getragen. Diese Jugendbewegung stellte überkommene Werte und Strukturen sowie staatliche, schulische und familiäre Autoritäten infrage. Sie setzte sich für größere persönliche Freiräume, Selbstbestimmung und eine gerechtere Gesellschaftsordnung ein.

Diese Bewegung war in zahlreiche Gruppierungen aufgefächert und stark von männlichen Jugendlichen dominiert. Als Reaktion darauf gründeten weibliche Jugendliche 1905 den Bund der Wanderschwestern. Neben bürgerlichen, christlichen und vaterländisch gesinnten Gruppierungen gab es auch sozialistische Jugendgruppen. Diese kümmerten sich um die Interessen von Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu und nahmen auch Mädchen auf. Da die Mitgliedschaft junger Jüdinnen und Juden in vielen Gruppen umstritten war, gründete sich 1912 der jüdische Wanderbund Blau-Weiß.

Von der Monarchie zur Republik

Seit dem 1. August 1914 befand sich das Deutsche Reich im Kriegszustand. Alle Streitigkeiten zwischen Regierung, Parteien sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen sollten nach dem Willen Kaiser Wilhelms II. für die Dauer des Krieges ruhen („Burgfrieden“). Doch die Belastungen durch den Krieg untergruben zunehmend die Autorität der Militär- und Zivilbehörden. 1917 brach eine erste große Streikwelle aus. Es wurden auch Forderungen nach einem Verständigungsfrieden und nach demokratischen Reformen laut.

Im Frühjahr/Sommer 1918 scheiterten die deutschen Westoffensiven. Daraufhin forderte die Oberste Heeresleitung (OHL) die sofortige Aufnahme von Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen. Weil Monarch und Militär nicht die vollständige Verantwortung für das militärische Scheitern und seine Folgen übernehmen wollten, sollte das Parlament eingebunden werden. Am 3. Oktober ernannte Wilhelm II. den als liberal geltenden Prinzen Max von Baden zum Reichskanzler. Dieser bildete eine Regierung, die erstmals vom Vertrauen der Mehrheitsparteien des Reichstags abhängig war.

Das neue Kabinett leitete innenpolitische Reformen ein. Aber die kriegsmüde und hungernde Bevölkerung hatte das Vertrauen in dieses politische System verloren. Die Kriegsniederlage und die Novemberrevolution führten zum Zusammenbruch der Monarchie.